Krankenversicherung: Brems- und Schiebehilfen für Rollstuhl wegen körperlicher Schwäche der Hilfspersonen
Sozialgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 12.03.2013 - S 25 KR 525/12
Die Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Bei ihr besteht ein Rett-Syndrom mit schwerer tiefgreifender Entwicklungsstörung. Sie kann weder gehen, stehen noch sitzen. Eine Fortbewegung, eine Halte- und Greiffähigkeit, eine Sprachfähigkeit und ein alters-entsprechendes Spielverhalten sind nicht gegeben. Nach dem Besuch eines integrativen Kindergartens besucht sie seit 2012 eine Schule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Die Beklagte hat ihr einen - manuell zu bewegenden - mechanischen Kinderaktivrollstuhl zur Verfügung gestellt.
Die von der Klägerin beantragte Kostenübernahme für eine elektrische Schiebe- und Bremshilfe für den Rollstuhl (Kosten 3.431,13 Euro) lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, eine Mobilität der Klägerin im näheren Umfeld sei mittels eines Rollstuhls und mit Hilfe ihrer Mutter gegeben.
Die Klägerin machte geltend, die Schiebehilfe werde benötigt, um sie u. a. zur Schule, zur Ergotherapie und zur Reittherapie zu bringen sowie für Spaziergänge. Ihren Eltern sei es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich, ihre Tochter im Sitzschalenrollstuhl (40 kg) bei einem Gesamtgewicht von 60 kg in dem bergigen Gelände ihrer Wohngegend zu schieben.
Der Vater sei u. a. wegen Beinfunktionsstörungen als schwerbehindert anerkannt. Die Mutter leide u. a. an einer starken Spondylarthrose mit Bandscheibendegeneration und einer muskulären Dysfunktion.
Der Medizinische Dienst der Krankenkasse war nach Aktenlage ohne Begründung zu der Beurteilung gelangt, eine Brems- und Schiebehilfe sei für die Mutter medizinisch nicht notwendig, weil sie den Rollstuhl auf ebener Strecke ohne Unterstützung schieben könne. Hingegen benötige der Vater aus medizinischen Gründen eine elektrische Schiebehilfe.
Das Sozialgericht verurteilte die Krankenkasse zur Kostenübernahme:
- Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (§ 33 SGB V).
- Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (vgl. BSG, Urteil vom 19. April 2007 - B 3 KR 9/06 R).
- Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehören u. a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebens-notwendigen Grundwissens beziehungsweise eines Schulwissens.
- Zum körperlichen Freiraum gehört die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltags-geschäfte zu erledigen sind (z. B. Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen, nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010 - B 3 KR 13/09 R). Anknüpfungspunkt für die Reichweite des Nahbereichs der Wohnung ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt (BSG, Urteil vom 12. August 2009 - B 3 KR 8/08 - SozR 4-2500 § 33 Nr. 27 RdNr. 15 - Elektrorollstuhl). Dies entspricht dem Umkreis, der mit einem vom behinderten Menschen selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreicht werden kann (BSG, Urteil vom 13. Mai 1998 - B 8 KN 13/97).
- Für die Bestimmung des Nahbereichs gilt ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängiger Maßstab (BSG, Urteil vom 20. November 2008 - B 3 KN 4/07 KR R). Der Nahbereich umschließt die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltags-geschäfte zu erledigen sind (st.Rspr., BSG, Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R). Die Fähigkeit, eine Wegstrecke von 100 m beziehungsweise 200 m zurückzulegen, ist als nicht ausreichend zur Erschließung des Nahbereichs angesehen worden (BSG, Urteil vom 24. Mai 2006 - B 3 KR 16/05 R). Dagegen umfasst der von der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähr-leistende Basisausgleich nicht die Fähigkeit, weitere Wegstrecken, vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer, zu bewältigen (BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 12/10 R).
- Im Einzelfall sind allerdings auch Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, von der Krankenkasse zu gewähren, wenn besondere qualitative Momente dieses "Mehr" an Mobilität erfordern. Solche besonderen qualitativen Momente liegen z. B. vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. So ist etwa die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können (BSG, Urteil vom 12. August 2009 - B 3 KR 8/08 R) oder wenn die hierfür benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Krankenversicherung Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Andere Grundbedürfnisse, die eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität erfordern, sind vom BSG in der Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger (BSG, Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 31/04 R) sowie in der Erreichbarkeit von Ärzten und Therapeuten bei Bestehen einer besonderen gesundheitlichen Situation (BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R) gesehen worden.
- Ausgehend von diesen Grundsätzen können Versicherte, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung die Fähigkeit zum selbstständigen Gehen verloren oder - wie die Klägerin - nicht erlernt haben, zur Erhaltung ihrer Mobilität auch eine Brems- und Schiebehilfe als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen, soweit ein Rollstuhl alleine für ihre Fortbewegung nicht ausreicht. Eine Brems- und Schiebehilfe für den Rollstuhl ersetzt nicht die bei der Klägerin nicht ausgebildete Funktion des Gehens. Sie kompensiert diese ausgefallene Funktion nur teilweise, und zwar nur in Verbindung mit einer dritten Person; es handelt sich um einen Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Ist diese Hilfsperson körperlich nicht in der Lage, den Versicherten über eine relevante Strecke zu schieben, so ist durch die gesetzliche Kranken-versicherung eine Schiebe- und Bremshilfe zur Verfügung zu stellen.
- Die Klägerin kann aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" nicht aus eigener Kraft befriedigen. Ihr ist es nur möglich, durch die Inanspruchnahme Dritter im Nahbereich der Wohnung bei einem Spaziergang "an die frische Luft zu kommen", die Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind sowie Ärzte und Therapeuten aufzusuchen und die Schule zu besuchen. Dafür genügt bei der Klägerin die Versorgung mit einem Kinderaktivrollstuhl allein nicht. Denn für ihre Fortbewegung außerhalb der Wohnung bedarf sie in Anbetracht ihres Körpergewichts (20 kg) und desjenigen ihres Rollstuhls mit Sitzschale (40 kg) sowie der gesundheitlichen Einschränkungen ihrer Eltern zusätzlich einer Brems- und Schiebehilfe; andernfalls ist es dem schiebenden Elternteil unzumutbar, die Klägerin fortzubewegen.
- Dies gilt aufgrund des fortzubewegenden Gesamtgewichts sowohl für den Vater als auch für die Mutter der Klägerin und unabhängig von den konkreten tatsächlichen Verhältnissen im Nahbereich (vgl. insoweit BSG, Urteil vom 07. Oktober 2010 - B 3 KR 13/09 R). Denn das Überwinden von Bordsteinkanten und Rampen ist in jedem Wohnumfeld unumgänglich, und die Fortbewegung eines derartigen Gesamtgewichts führt zu Gefährdungssituationen, die nur mit einer Brems- und Schiebehilfe ausreichend beherrscht werden können.
- Das Bundessozialgericht hat für den Rollstuhlfahrer selber festgestellt, dass das Grundbedürfnis der Fortbewegung im Nahbereich nur dann befriedigt ist, wenn er ohne übermäßige Anstrengung, schmerzfrei und aus eigener Kraft in der Lage ist, sich in normalem Rollstuhltempo fortzubewegen (BSG, Urteil vom 12. August 2009 - B 3 KR 8/08 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 27 - Rdnr. 24 - Elektroroll-stuhl). Der gleiche Maßstab muss für die in Anspruch genommene Hilfsperson gelten. Ist diese nicht mehr in der Lage, ohne übermäßige Anstrengung den Rollstuhl schmerzfrei und aus eigener Kraft in normalem Rollstuhltempo zu schieben, so ist es ihr nicht mehr zuzumuten, den Rollstuhl ohne Schiebe- und Bremshilfe zu schieben. Auch in der Ebene ist das Überwinden von Bordstein-kanten, Treppenstufen und Rampen unumgänglich, und die Fortbewegung eines derartigen Gesamtgewichts führt zu Gefährdungssituationen, die von den Eltern der Klägerin nur mit einer Brems- und Schiebehilfe ausreichend beherrscht werden können.
- Entgegen der Auffassung der Beklagten ist nicht auf den Idealmaßstab einer durchgehend vorhandenen "Ebene" im Nahbereich der Wohnung abzustellen. Es ist vielmehr nach der Recht-sprechung des Bundessozialgerichts von einem durchschnittlichen Wohnbereich auszugehen. Durchschnittliche Wohnverhältnisse bedeuten jedoch nicht eine für einen Rollstuhlfahrer optimale Wohnumgebung ohne jegliche An- und Abstiege. Ist die Hilfsperson - wie hier die Eltern der Klägerin - ohne Schiebe- und Bremshilfe nicht in der Lage, kurze Steigungen zu überwinden, so ist die Schiebe- und Bremshilfe zu gewähren.
- Schließlich steht der Klägerin das Wahlrecht auf Auswahl der sie im Rollstuhl schiebenden Hilfs-person zu. Sie kann nicht ausschließlich auf ihre Mutter als Hilfsperson verwiesen werden. Vielmehr hat sie Anspruch darauf, ihr Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums auch mit Hilfe ihres hierzu bereiten Vaters zu befriedigen, der nicht fähig ist, seine Tochter im Rollstuhl ohne elektrische Schiebe- und Bremshilfe auch nur auf ebener Strecke zu schieben.
Anmerkung: Die Urteilsbegründung des Sozialgerichts stellt wichtige Grundsätze der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausführlich dar.
Sie bietet zahlreiche Argumente gegen Entscheidungen von Krankenkassen, die zu oft ohne Berück-sichtigung der Grundbedürfnisse eines behinderten Menschen notwendige Hilfsmittel verweigern, wie auch der vorliegende Fall deutlich macht.
Der Beitrag wurde im Februar 2014 umfangreich aktualisiert und weicht daher inhaltlich von der gedruckten Fassung der Ausgabe 4/2013 (Oktober 2013) des Recht-Informationsdienstes ab.