Kirchlicher Datenschutz: Vorrang des Rechts eines minderjährigen Jugendlichen auf informationelle Selbstbestimmung vor dem Auskunftsrecht der Eltern
Interdiözesanes Datenschutzgericht, Beschluss vom 25.02.2022 - IDSG 23/2020
Zum Sachverhalt
Die 15-jährige Tochter des Antragstellers befand sich im Rahmen der Hilfen zur Erziehung nach § 34 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) stationär in einem Caritas-Kinderheim.
Die Heimunterbringung erfolgte auf Anraten des Jugendamtes. Während der Heimunterbringung wurden zur Hilfeplanung Daten der Tochter erhoben, unter anderem Selbsteinschätzungsbögen und Beurteilungen durch das Fachpersonal. Außerdem wurden Daten der Tochter im Rahmen eines Evaluierungsprogramms anonymisiert an ein Institut weitergegeben. Das Evaluierungsprogramm dient der Qualitätssicherung und ist Teil der Leistungsvereinbarung mit dem örtlichen Sozialleistungsträger. Während der Heimunterbringung wurde die Tochter am Mai 2020 mit einem Krankenwagen vom Heim in ein Krankenhaus transportiert. Danach wurde sie aus der Einrichtung ausgeschlossen und nach Hause entlassen.
Ihr Vater verlangt vom Heim Kopien aller Daten, die seine Tochter betreffen, sowie Kopien der anonymisierten Evaluationsbögen. Das Heim lehnte ab, weil dies Datenschutzrechte der Tochter verletzen würde. Das Auskunftsanliegen sei mit der Tochter erörtert worden. Die Tochter habe die Zustimmung zur Weitergabe der Daten verweigert; sie habe die Bögen in dem Bewusstsein ausgefüllt, dass sie vertraulich behandelt würden. Der Antragsteller sei informiert worden, dass es das Vertrauensverhältnis zur Tochter gefährden würde, wenn die Eltern auf der Auskunft bestehen würden. Das Verhältnis zwischen der Tochter und den Eltern sei konfliktreich. Dies sei auch ein Grund für die Unterbringung. Hinzu komme eine psychische Erkrankung der Tochter mit suizidalen Tendenzen. Die pädagogischen Fachkräfte, die die Tochter betreuten, hätten bestätigt, dass die Tochter für ihr Alter sehr einsichtig sei und über die erforderliche geistige Reife verfüge, um die Konsequenzen ihrer Weigerung zur Auskunftserteilung zu erfassen.
Zur Begründung
Der Vater hat keinen Anspruch auf Erteilung der von ihm begehrten umfassenden Auskunft durch Herausgabe von Kopien der Dokumentationen betreffend seine Tochter (§ 17 Abs 1 und Abs. 3 KDG).
Zwar enthalten die von ihm herausverlangten Dokumentationen auch Angaben über die Beziehung der Tochter zu ihren Eltern. Die Informationen über das Erziehungsverhalten der Eltern beziehen sich damit gerade auch auf ihn.
Jedoch ist der grundsätzlich bestehende Auskunftsanspruch des Vaters gegen seine Tochter entsprechend § 17 Abs. 4 KDG ausgeschlossen: denn dieser Ausschluss gilt nicht nur für die Herausgabe von Kopien, sondern für jede Beschränkung von Auskünften.
Das Recht der Tochter auf informationelle Selbstbestimmung überwiegt aber die Rechte des Antragstellers. Die Tochter hat der Auskunftserteilung widersprochen. Dieser Widerspruch ist rechtlich beachtlich. Im Kinder- und Jugendhilferecht ist der Widerspruch einer Jugendlichen, die das 15. Lebensjahr vollendet hat, auch datenschutzrechtlich grundsätzlich beachtlich. Die - im vorliegenden Fall einschlägige - Heimerziehung soll gemäß § 34 Satz 2 SGB VIII entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand der Jugendlichen durchgeführt werden. Dabei sind die Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe entsprechend ihrem Entwicklungsstand zu beteiligen (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Die Vollendung des 15. Lebensjahres bedeutet in diesem rechtlichen Zusammenhang eine Zäsur, ab der eine weitgehende Selbständigkeit des Jugendlichen anzunehmen ist. Denn § 36 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) bestimmt, dass Sozialleistungen beantragen, durchsetzen und entgegennehmen kann, wer das 15. Lebensjahr vollendet hat.
Die Erteilung der begehrten umfassenden Auskunft würde das Recht der Tochter auf informationelle Selbstbestimmung als Recht im Sinn von Art. 1 GG und § 17 Abs. 4 KDG in erheblichem Maße beeinträchtigen. Betroffen sind insbesondere sensible Daten aus der persönlichen und der Intimsphäre, bei deren Angabe die Tochter davon ausgehen durfte, dass sie nicht weitergegeben werden. Eine derartige berechtigte Erwartung ist regelmäßig schutzwürdig.
Wenn eine solche Erwartung enttäuscht wird, ist bei medizinischen, psychologischen und pädagogischen Maßnahmen zu befürchten, dass das Vertrauensverhältnis zum Arzt, zum Psychologen und zur pädagogischen Fachkraft derart erschüttert wird, dass der Erfolg der Maßnahme gefährdet ist. Dies gilt insbesondere, wenn - wie im vorliegenden Fall - eine Weitergabe der Daten an die Eltern in Rede steht und eine Konfliktlage in der Beziehung zu den Eltern zumindest nicht ausgeschlossen werden kann.
Demgegenüber ist die Beeinträchtigung der Rechte des Antragstellers durch die Verweigerung der umfassenden Auskunft begrenzt. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein pflichtgebundenes Recht darstellt, das zum Wohl des Kindes auszuüben ist. Gerade bei der Ausübung höchstpersönlicher Rechte tritt das Elternrecht zurück, wenn die erforderliche Einsichtsfähigkeit des Kindes gegeben ist.