Kinderrechte: Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege bis zum Schuleintritt
Das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) bestimmt in Nordrhein-Westfalen die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für die frühkindliche Bildung.
1. Rechtzeitige Bedarfsanzeige und persönliche
Anmeldung
Der Anspruch auf Kindertagesbetreuung setzt in der Regel voraus, dass die Eltern
- dem zuständigen Jugendamt spätestens sechs Monate vor Inanspruchnahme eines Platzes ihren Bedarf schriftlich anzeigen und
- sich in der gewünschten Kindertageseinrichtung oder in der Kindertagespflege frühzeitig persönlich anmelden.
Die Anmeldung beim Jugendamt kann über elektronische Anmeldesysteme des jeweiligen Jugendamtes vorgenommen werden. Das Jugendamt wird den Eltern die Bedarfsanzeige innerhalb eines Monats bestätigen und über die Höhe der Elternbeiträge informieren.
Eltern müssen selbst nach einem Platz in einer Kita bzw. Kindertagespflege suchen. Eine frühzeitige Anmeldung kann schon während der Schwangerschaft erfolgen, hat aber nicht immer Erfolg.
Spätestens sechs Wochen vor der Inanspruchnahme wird der Betreuungsplatz zugewiesen.
2. Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung: Unterscheidung
nach Altersstufen
Das Angebot eines Jugendamts zur frühkindlichen Förderung genügt den gesetzlichen Anforderungen, wenn es dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner Erziehungsberechtigten insbesondere in zeitlicher und räumlicher Hinsicht entspricht. Es besteht eine unbedingte Bereitstellungs- und Gewährleistungspflicht1:
- Bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres hat das Kind Anspruch auf Förderung nur dann, wenn die Eltern das Kind unzureichend fördern können bzw. eine Erwerbstätigkeit ausüben, planen oder suchen oder sich in einer beruflichen Bildungsmaßnahme, einer Schul- oder Hochschulausbildung befinden.
- Jedes Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege.
- Jedes Kind, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, hat bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Das Kind kann, wenn die Kita den Bedarf nicht voll abdeckt oder bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden.
Beispiel: Endet die Betreuungszeit der Kindertagesstätte um 16:30 Uhr, hat das Kind Anspruch auf ergänzende Betreuung in der Kindertagespflege bis 18:00 Uhr, falls die Mutter berufstätig ist und das Kind nicht früher abholen kann.2 - Für Kinder im schulpflichtigen Alter ist ein bedarfsgerechtes Angebot in Tageseinrichtungen vorzuhalten.
3. Öffnungszeiten und Schließtage der
Kindertageseinrichtung
Jede Kindertageseinrichtung soll unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der Elternwünsche zur Förderung aller aufgenommenen Kinder ganzjährig und regelmäßig anbieten (§ 27 Absatz 1 und 3 KiBiz). Sie kann Kernzeiten von mindestens sechs Stunden von Montag bis Freitag festlegen. Sie soll auch einen regelmäßigen Bedarf an unterschiedlich langen Betreuungszeiten je Wochentag sowie unregelmäßige und unterjährige Änderungsbedarfe der Familien erfüllen.
Die Anzahl der Tage, an denen Kinder nicht betreut werden (Schließtage) soll im Kalenderjahr und im Kindergartenjahr 20 Öffnungstage nicht überschreiten. Mehr als 27 Öffnungstage sind unzulässig (§ 27 Abs. 2 KiBiz).
4. Umfang des Anspruchs
In Nordrhein-Westfalen regelt das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen.
www.mkffi.nrw/kinderbildungsgesetz
Eltern haben zwar ein Wunsch- und Wahlrecht zwischen verschiedenen Anbietern von freien Plätzen. Ist aber nur ein Platz frei, ist auch Anspruch auf Förderung auf diesen Platz beschränkt (§ 3 KiBiz).3
Der Betreuungsplatz muss "wohnortnah" zur Verfügung stehen. Er darf nicht mehr als fünf Kilometer von der Wohnung entfernt sein und muss üblicherweise zu Fuß, mit PKW oder mit Bus oder Bahn innerhalb von 30 Minuten erreicht werden können. Liegt der Betreuungsplatz nicht wohnortnah, aber auf dem Weg oder in der Nähe der Arbeitsstätte, kann auch eine größere Entfernung zumutbar sein.4
Der zeitliche Umfang des Betreuungsanspruchs richtet sich nach dem individuellen Bedarf (§ 24 Abs. 2 SGB VIII; § 3 Abs. 2 KiBiz). Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat gegebenenfalls die vorhandenen Kapazitäten so zu erweitern, dass sämtlichen anspruchsberechtigten Kindern ein ihrem Bedarf entsprechender Betreuungsplatz nachgewiesen werden kann.5
Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vertritt abweichend davon die Ansicht, der Rechtsanspruch der Kinder, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, beschränke sich auf eine halbtägige, fünf Stunden umfassende Betreuung von Montag bis Freitag.6 Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg beschränkt den Anspruch auf sechs Stunden an fünf Tagen.
5. Kostenbeteiligung der Eltern
Die beiden Jahre vor der Einschulung sind in NRW in der Regel beitragsfrei, wenn das Kind vor dem Stichtag 31.09. geboren wurde (§ 50 KiBiz).
Im Übrigen können die Kommunen durch Satzung gestaffelte Kostenbeiträge der Eltern bestimmen und diese durch Leistungsbescheid erheben. Bei der Staffelung können insbesondere das Einkommen der Eltern, die Anzahl der kindergeldberechtigten Kinder in der Familie und die tägliche Betreuungszeit des Kindes berücksichtigt werden (§ 90 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 SGB VIII).
Kommunen veröffentlichen auf ihren Webseiten die Höhe der Elternbeiträge.
Zusätzlich kann ein angemessenes Entgelt für Mahlzeiten und Getränke verlangt werden. Unzulässig sind aber zusätzliche Beiträge für Ausflüge, Materialkosten, Aufnahmebeiträge, längere Öffnungszeiten, musikalische Früherziehung, Elternberatung und Elterngespräche usw. (§ 51 Abs. 3 KiBiz).
www.lebnrw.de/2021/07/06/kita-gebuehren-zusatzbeitraege-und-essensgelder
6. Klage auf Verschaffung eines freien Platzes
Finden die Eltern keinen zumutbaren freien Platz, können sie das Jugendamt darüber informieren und gleichzeitig auffordern, binnen einer Frist von sechs bis acht Wochen ihren Rechtsanspruch zu erfüllen bzw. einen Ablehnungsbescheid zu erlassen.
Gegen den Bescheid könnte Widerspruch eingelegt und nach dessen Ablehnung Klage bei dem Verwaltungsgericht erhoben werden. Ist aber kein freier Betreuungsplatz vorhanden, müsste die Klage auf Verschaffung eines Betreuungsplatzes abgelehnt werden. Deshalb raten selbst Rechtsanwälte von derartigen Klagen ab, wenn kein freier Platz benannt werden kann.
7. Anspruch auf Kostenerstattung für alternative
Betreuung
Kann die zuständige Gemeinde den Rechtsanspruch der Eltern auf einen Betreuungsplatz nicht erfüllen, ist sie verpflichtet, die erforderlichen Kosten für eine alternative Betreuung zu erstatten (privater Kindergarten, Kinderhotel, Babysitter); denn sie verletzt ihre Amtspflicht und ist zum Schadensersatz verpflichtet, wenn sie einem anspruchsberechtigten Kind trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt.7
Ein Landkreis wurde auf Klage einer Mutter zum Ausgleich des erlittenen Verdienstausfalls in Höhe von ca. 23.000 Euro verpflichtet.8
Allerdings verlangen einige Oberlandesgerichte von den Eltern, dass diese unverzüglich nach Zustellung des Ablehnungsbescheids der Gemeinde, einstweiligen Rechtsschutz auf Bereitstellung eines Betreuungsplatzes beim Verwaltungsgericht beantragen, damit die Gemeinde noch reagieren könne.9
8. Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen für eine
selbstbeschaffte Betreuung
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zum Ersatz der Aufwendungen für eine selbstbeschaffte Betreuung entsprechend der Regelung in
§ 36a Abs. 3 SGB VIII verpflichtet, wenn die Eltern ihn vor der Selbstbeschaffung über den akut bestehenden Betreuungsbedarf informiert haben und es nicht zu erwarten bzw. zumutbar ist, die Deckung des Bedarfs durch das Jugendamt abzuwarten.
Der Anspruch auf Übernahme von Aufwendungen für einen selbstbeschafften Platz ist auf den Mehraufwand beschränkt, der gerade durch die Selbstbeschaffung entstanden ist. Deshalb sind ersparte Kostenbeiträge der Eltern anzurechnen. Nur in den Fällen, in denen ein Recht auf kostenfreie Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes besteht, sind die gesamten Übernahmekosten vom Jugendamt zu übernehmen. In den Fällen, in denen kein Recht auf kostenfreie Inanspruchname eines Betreuungsplatzes besteht, können Eltern nur einen Mehraufwand geltend machen, der durch die Selbstbeschaffung entstanden ist.10
Wegen der komplizierten Rechtslage ist dringend anzuraten, umgehend kompetenten rechtlichen Rat und Unterstützung einzuholen, sobald klar wird, dass vom Jugendamt kein Betreuungsplatz angeboten werden kann.
1 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 21.11.2017 - 2 BvR 2177/16, Rn 134.
2 Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 05.02.2020 - 12 B 1324/19, Rn 20.
3 Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 05.02.2020 - 12 B 1324/19, Rn 12.
4 Verwaltungsgericht Cottbus, Beschluss vom 06.10.2021 - 8 L 290/21, Rn.
5 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 21.07.2015 - 1 BvF 2/13, Rn 43;
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26.10.2017 - 5 C 19/16.
6 Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.07.2020 - 12 S 3227/21, Rn 16ff.
mit weiteren Nachweisen;
Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 15.12.2021 - 10 ME 170/21, Rn 12.
7 Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.10.2016 - III ZR 278/15, III ZR 302/15.
8 Oberlandesgericht Frankfurt, Urteil vom 28.05.2021 - U 13 436/19.
9 Oberlandesgericht Brandenburg, Beschluss vom 03.04.2019 - 2 W 33/18.
10 Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26.07.2017 - 5 C 19.16, Rn 74.