Heimvertrag: Kündigung wegen sexuellen Übergriffs
Landgericht Essen, Urteil vom 18.03.2013 - 1 O 181/12
Der 94-jährige Kläger hat einen Heimvertrag mit dem beklagten Heimträger abgeschlossen und bewohnt ein Apartment.
Zum Heim gehört eine Pflegestation, in der gerontopsychiatrisch veränderte Menschen wohnen, die häufig nicht mehr in der Lage sind, ihren Alltag alleine zu strukturieren und angemessen auf Situationen zu reagieren.
Der Kläger konnte jederzeit die Pflegestation betreten, Kontakt zu diesen Bewohnern aufnehmen und diese in ihren Zimmern aufsuchen. Im Heim war aufgefallen, dass die Mitbewohnerin Frau X immer geweint hatte, wenn der Kläger in ihrem Zimmer gewesen war.
Am Abend des 18.06.2012 war er wieder einmal im Zimmer der Frau X. Zwei Heimmitarbeiter, die von ihm nicht bemerkt worden waren, beobachteten, wie der Kläger mit seiner rechten Hand Frau X zunächst am Arm streichelte und dann ihre Brust massierte. Daraufhin habe Frau X angefangen zu weinen. Nachdem ein Heimmitarbeiter auf sich aufmerksam gemacht habe, habe der Kläger die Hände gehoben, den körperlichen Kontakt beendet und etwas wie "ist ja schon gut" gesagt. Später hat der Kläger versucht, den Heimmitarbeiter davon abzuhalten, den Vorfall weiter zu melden.
Der Heimträger erklärte darauf mit Schreiben vom 02.07.2012 dem Kläger die Kündigung des Heimvertrages aus wichtigem Grund mit einer Auslauffrist zum 31.07.2012. Er berief sich in seinem Schreiben auf den Vorfall vom 18.06.2012, bei dem der Kläger eine Mitbewohnerin belästigt habe.
Seit dem 18.06.2012 hielt der Kläger zu Frau X Abstand. Er behauptet, Frau X nicht sexuell belästigt zu haben. Jedenfalls habe er keine Art "von sexuellen Hintergedanken" gehabt.
Er ist der Ansicht, die Kündigung sei unverhältnismäßig. Bereits weniger einschneidende Maßnahmen, wie eine Abmahnung, ein Betretungsverbot bestimmter Flure, etc. hätten ausgereicht. Es sei auch zu berücksichtigen, dass ihm der Vorfall leid tue, er sich entschuldigt habe und dass auch seine Frau in dem Heim gepflegt werde.
Seine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung wurde abgewiesen.
- Ein Heimvertrag kann fristlos gekündigt werden, wenn der Bewohner seine vertraglichen Pflichten schuldhaft so gröblich verletzt, dass dem Unternehmer die Fortsetzung des Vertrages nicht mehr zugemutet werden kann (§§ 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 in Verbindung mit § 18 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz).
- Heimbewohner haben eine vertragliche Nebenpflicht, die Persönlichkeitsrechte anderer Bewohner des Heims nicht zu verletzen (§ 242 BGB).
- Der Kläger hat massiv gegen die Persönlichkeitsrechte seiner Mitbewohnerin verstoßen. Das Massieren der Brust kann nicht mit einem "Trösten" erklärt werden. Es handelt sich um einen sexuellen Übergriff. Das Verhalten des Klägers nach dem Übergriff zeigt auch, dass er sich bewusst war, dass sein Massieren nicht mit dem Willen der Mitbewohnerin erfolgte.
- Die Fortsetzung des Heimvertrages ist für den Beklagten auch unzumutbar. Im Rahmen der Unzumutbarkeit sind alle tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Sowohl die Interessen und Pflichten des Beklagten einerseits als auch die des Klägers andererseits sind abzuwägen.
- Die durchaus bestehenden schützenswerten Interessen des Klägers stehen der Unzumutbarkeit nicht entgegen. Ein Umzug des Klägers in ein anderes Heim ist aufgrund seines hohen Alters für ihn sehr belastend. Dem Beklagten obliegt aber die Pflicht, die körperliche Integrität und Persönlichkeitsrechte der Heimbewohnerinnen (Artikel 2 GG) vor Übergriffen durch den Kläger zu schützen, weil viele Heimbewohnerinnen aufgrund ihrer körperlichen und psychischen Verfassung nicht in der Lage sind, sich selbst zu schützen oder Geschehenes zu verarbeiten. Gerade demente Personen können auf tätliche und sexuelle Angriffe nicht adäquat reagieren. Auch aufgrund des Verlustes des Kurzzeitgedächtnisses können Bewohner solche Ereignisse nicht mehr mitteilen. Die Heimleitung kann die Heimbewohnerinnen auch nicht sicher durch andere organisatorische Maßnahmen schützen. Das Heim kann aufgrund der Belastung durch den Arbeitsablauf in einer solchen Einrichtung nicht verpflichtet werden, den Kläger ständig zu überwachen.
- Bei der Abwägung ist aber auch zu berücksichtigen, dass bei Aufrechterhaltung des Heimverhältnisses der Beklagte der von dem Übergriff betroffenen Heimbewohnerin zumuten müsste, weiterhin mit dem Kläger unter einem Dach zu leben. Ein Umzug ist der Geschädigten aber weniger zuzumuten als dem Schädiger, der den sexuellen Übergriff begangen hat.
- Eine Abmahnung war nicht erforderlich; denn § 12 Absatz 3 WBVG bestimmt, in welchen Fällen der außerordentlichen Kündigung eine Abmahnung erforderlich ist. Für die Kündigung wegen grober Pflichtverletzung gemäß § 12 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 WBVG ist eine Abmahnung nicht vorgeschrieben. Außerdem ist die Pflichtverletzung derart gewichtig, dass sie auch ohne vorherige Abmahnung dazu führt, dass der Beklagten die Fortsetzung des Heimvertrags nicht zumutbar war.
Anmerkung: Eine Kündigung des Heimvertrags kommt z. B. auch bei nachhaltiger Störung des Hausfriedens (Landgericht Coburg, Urteil vom 17.11.2008) bzw. bei Verstoß gegen ein Rauchverbot in Betracht (Landgericht Freiburg, Urteil vom 05.07.2012 - 3 S 48/12). Stets ist aber zu prüfen, ob nicht eine weniger belastende Möglichkeit besteht, zukünftige Störungen zu vermeiden.