Haftung: Verurteilung einer Sozialarbeiterin wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen
Landgericht Arnsberg, Urteil vom 07.01.2020 - 3 Ns-411 Js 274/16-101/17
Die wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zum Nachteil des Kindes B zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 70 Euro verurteilte Sozialarbeiterin hatte nach Abschluss des Studiums im Dezember 2011 ihre berufliche Tätigkeit im Allgemeinen Sozialen Dienst einer Kreisverwaltung in NRW aufgenommen.
Seit Mitte 2013 war sie für eine Familie zuständig, die aus dem Diepholzkreis in das Vogtland und von dort nach kurzer Zeit in das Kreisgebiet umgezogen war. Zur Familie gehörten neun Kinder im Alter von zwei Monaten bis 15 Jahren. Der Sohn B, das zweitjüngste Kind, war zu diesem Zeitpunkt ca. 18 Monate alt.
Das Jugendamt Vogtlandkreis hatte in einem ausführlichen Bericht über die Familiensituation u. a. mitgeteilt: "B verbringt die meiste Zeit in der Lauflernhilfe. B schlägt den Kopf gegen die Lauflernhilfe, den Autositz oder die Babyschale."
Bei dem ersten Hausbesuch am 5. August 2013 hat die Sozialarbeiterin die "Tabelle zur Situationseinschätzung" ausgefüllt, die ca. 20 Bewertungen u. a. der Wohnverhältnisse, der Körperpflege, der medizinischen Versorgung, der motorischen Auffälligkeiten, der Ernährung und psychosoziale Diagnosen der Verhaltensauffälligkeiten sowie der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse usw. erfordert: Pauschal für alle Kinder hat sie jeweils "i. O." angekreuzt.
Altersentsprechend hätte das Kind B erste freie Schritte beherrschen und im Alter von damals ca. 18 Monaten frei laufen müssen. Wären bereits zum Zeitpunkt des Hausbesuches am 05.08.2013 die Fragen der motorischen Fähigkeiten und der Ernährung Bs geprüft worden, wäre festgestellt worden, dass B in diesen Punkten jedenfalls nicht altersentsprechend entwickelt war.
In den folgenden Monaten ging es bei weiteren Hausbesuchen um die zahlreichen Probleme der anderen Kinder. Vereinbarte Termine wurden von der Mutter der Kinder bis Mitte Januar 2014 abgesagt. Bei einem Hausbesuch am 30. Januar 2014 wurde ausschließlich über die Problematik eines älteren Kindes gesprochen. Die Sozialarbeiterin vermerkte u. a., zum Ende des Gespräches habe die Mutter die Tochter A aus dem Nebenraum geholt und erklärt, das Kind B sei im Bett.
In den Monaten Januar und Februar 2014 grassierte eine Magen-Darm-Erkrankung in der Familie, wobei sich die Kinder immer wieder gegenseitig ansteckten.
Am Montag, den 24.02.2014, brachte die Mutter den Sohn B in ein Krankenhaus. Das Kind verstarb am nächsten Tag. Ursächlich war eine mindestens dreimonatige Nahrungsunterversorgung sowie ein mindestens seit zwei Wochen andauernder Flüssigkeitsmangel.
Das Amtsgericht Medebach verurteilte die Sozialarbeiterin zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Das Landgericht hob dieses Urteil auf und verurteilte zu einer Geldstrafe:
- Der Tod ist durch pflichtwidriges Unterlassen der Angeklagten verursacht.
- Ein Sozialarbeiter, der eine Problemfamilie betreut, ist verpflichtet, das körperliche, geistige und seelische Wohl von (mit-)betreuten Kindern auch vor rechtsgutsverletzendem Verhalten der Eltern oder eines Elternteils zu schützen (Garantenstellung).
- In einer Situation, in der eine Kindeswohlgefährdung eines Kindes (Säugling A) vorliegt, sind im Laufe der Zeit auch die Geschwisterkinder in den Blick zu nehmen (Rn 161).
- Verletzt ein Sozialarbeiter seine Garantenpflichten, indem er den Tod eines Kindes nicht verhindert, kann er wegen Begehung durch Unterlassen bestraft werden (§ 13 StGB).
Anmerkung: Auch Mitarbeiter caritativer Träger sind in der Vergangenheit verurteilt worden, wenn sie beispielsweise in der Sozialpädagogischen Familienhilfe tätig und deshalb Garanten im strafrechtlichen Sinne waren.
Das Landgericht Arnsberg geht davon aus, dass die Sozialarbeiterin verpflichtet gewesen sei, den Ernährungszustand aller anderen acht Kinder regelmäßig zu prüfen, weil das jüngste Kind, der Säugling A, bei der Vorsorgeuntersuchung U3 im Vogtland als "untergewichtig, aber nicht als stationär notwendig behandlungsbedürftig eingestuft" worden sei.
Bei regelmäßigen Kontrolluntersuchungen der 2-15 Jahre alten Kinder, bei Anamnese und Untersuchung des Kindes B in unbekleidetem und auch bei Betrachten des Jungen im angezogenen Zustand hätte einer im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ausgebildeten und tätigen Fachkraft auffallen müssen, dass dieser im Vergleich zu altersentsprechenden Jungen viel zu dünn und viel zu klein gewirkt hätte.
Die Clearingstelle des Jugendamts hatte nach eigener Prüfung die Situation so eingeschätzt, dass der Säugling A, nicht aber die weiteren Kinder gefährdet waren (Rn 109).
Nach wie vor erwarten Strafrichter von Sozialarbeiter/innen eine lückenlose ständige Gewichts-, Mobilitäts- und Entwicklungskontrolle aller Kinder in problematischen Familien ohne Rücksicht auf die sonstige berufliche Belastung und die Folgen für den Aufbau und die Erhaltung der für die Jugend- und Familienhilfe gesetzlich geschützten Vertrauensgrundlage.
Organisatorische Änderungen im Jugendamt: Das zuständige Kreisjugendamt, dem vom Amtsgericht massives Versagen vorgeworfen worden war, hat das Landesjugendamt um fachliche Beratung gebeten. Das Landesjugendamt hat u. a. darauf hingewiesen, dass für Sozialarbeiter, die unmittelbar nach dem Abschluss der Ausbildung im Allgemeinen Sozialdienst eingestellt werden, in der Einarbeitungsphase eine fachliche Begleitung, Supervision oder kollegiale Beratung unbedingt erforderlich sei. Fallzahlen müssten dem Bedarf angepasst und überlange Fahrzeiten zu Hausbesuchen in ländlichen Bereichen durch ortsnahe Organisation möglichst reduziert werden.