Fehlen eines Betreuungsplatzes: Ersatz des Verdienstausfalls durch den Jugendhilfeträger
Bundesgerichtshof, Urteile vom 20. Oktober 2016 - III ZR 278/15, 302/15 und 303/15
Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen anerkannt, dass Eltern den Ersatz ihres Verdienstausfallschadens verlangen können, wenn ihrem Kind ab Vollendung des ersten Lebensjahres vom zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe kein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt wird und sie deshalb keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können.
Die Klägerinnen beabsichtigten, jeweils nach Ablauf der einjährigen Elternzeit ihre Vollzeit-Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Unter Hinweis darauf meldeten sie für ihre Kinder wenige Monate nach der Geburt bei der beklagten Stadt Bedarf für einen Kinderbetreuungsplatz für die Zeit ab der Vollendung des ersten Lebensjahres an. Zum gewünschten Termin wurde ihnen kein Betreuungsplatz nachgewiesen. Die Beklagte teilte lediglich mit, die Nachfrage nach Betreuungsplätzen im gesamten Stadtgebiet sei besonders hoch und übersteige derzeit die verfügbaren Kapazitäten.
Für den Zeitraum zwischen der Vollendung des ersten Lebensjahres ihrer Kinder und der späteren Beschaffung eines Betreuungsplatzes verlangten die Klägerinnen Ersatz des ihnen entstandenen Verdienstausfalls unter Anrechnung von ersparten Elternbeiträgen in Höhe von ca. 4.500 Euro, 2.200 Euro bzw. 7.300 Euro.
Anmerkung: "Ein Kind, dass das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege" (§ 24 Abs. 1 SGB VIII). Diese gesetzliche Regelung soll das Kindeswohl fördern und auch dazu beitragen, den Eltern die Aufnahme oder Weiterführung einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.Der Bundesgerichtshof hat die Urteile des Oberlandesgerichts Dresden, das die Klagen abgewiesen hatte, aufgehoben, die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen und festgestellt:
- Eine Amtspflichtverletzung liegt bereits dann vor, wenn der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe einem anspruchsberechtigten Kind trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt. Die Amtspflicht ist nicht durch die vorhandene Kapazität begrenzt. Vielmehr ist der verantwortliche öffentliche Träger der Jugendhilfe gehalten, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte - freie Träger der Jugendhilfe oder Tagespflegepersonen - bereitzustellen. Insoweit trifft ihn eine unbedingte Gewährleistungspflicht.
- In den Schutzbereich der Amtspflicht fallen auch Verdienstausfallschäden, die Eltern dadurch erleiden, dass ihre Kinder entgegen der gesetzlichen Verpflichtung keinen Betreuungsplatz erhalten. Zwar steht der Anspruch auf einen Betreuungsplatz allein dem Kind selbst zu und nicht auch seinen Eltern. Die Einbeziehung der Eltern und ihres Erwerbsinteresses in den Schutzbereich der Amtspflicht ergibt sich aber aus der Regelungsabsicht des Gesetzgebers.
- Wird der Betreuungsplatz nicht zur Verfügung gestellt, so besteht hinsichtlich des erforderlichen Verschuldens des Amtsträgers zugunsten des Geschädigten der Beweis des ersten Anscheins d. h. er kann eine Haftung nur ausschließen, wenn er nachweist, dass er alles getan hat, was von ihm zu erwarten war, um seine gesetzliche Pflicht zu erfüllen, er aber trotzdem einen geeigneten Platz nicht anbieten kann.
- Auf allgemeine finanzielle Engpässe kann die Beklagte sich zu ihrer Entlastung nicht mit Erfolg berufen, weil sie nach der gesetzgeberischen Entscheidung für eine ausreichende Anzahl an Betreuungsplätzen grundsätzlich uneingeschränkt - insbesondere: ohne "Kapazitätsvorbehalt" - einstehen muss.
Anmerkung: "Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege" (§ 24 Abs. 1 SGB VIII). Diese gesetzliche Regelung soll das Kindeswohl fördern und auch dazu beitragen, den Eltern die Aufnahme oder Weiterführung einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.
Der Bundesgerichtshof hat den Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls anerkannt. Die Verfahren hat er an das zuständige Landgericht nur deshalb zurückverwiesen, weil in dessen Urteilen Feststellungen zum Verschulden der Bediensteten der Beklagten und zum Umfang des Schadens fehlten.
Die Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege wird grundsätzlich als gleichwertig angesehen.1 Steht ein freier, bedarfsgerechter und wohnortnaher Betreuungsplatz nur noch bei einer Tagesmutter und nicht in einer von den Eltern gewünschten Kindertagesstätte zur Verfügung, erfüllt der Jugendhilfeträger den Rechtsanspruch der Eltern mit dem Angebot des freien Platzes bei der Tagesmutter.2
Ob ein angebotener Betreuungsplatz "wohnortnah" ist, kann nach der Rechtsprechung nicht durch starre Kriterien wie "Entfernung bis zu 5 Kilometer" oder "bis zu 30 Minuten Geh-/Fahrzeit" bestimmt werden, sondern nur durch eine auf den Einzelfall bezogene Zumutbarkeitsbeurteilung.3 Diese muss u. a. die Belastung des Kindes und der Eltern durch das Hinbringen und Abholen bei unterschiedlichen Witterungsverhältnissen sowie Dauer und Lage der Arbeitszeit berufstätiger Eltern berücksichtigen.
Ausnahmsweise dürfen die Eltern sich einen geeigneten Betreuungsplatz selbst beschaffen. Sie können aber vom Jugendhilfeträger Kostenerstattung nur verlangen, wenn sie ihn rechtzeitig vor der Selbstbeschaffung über den Betreuungsbedarf informiert haben, zeitnah aber kein Betreuungsplatz angeboten wurde.
1 Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 19.09.2013 - 10 B 1848/13, NJW 2013, 3803.
2 Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 14.08.2013 - 12 B 793/13.
3 Oberverwaltungsgericht NRW, Urteil vom 20.04.2016 - 12 A 1262/14.