Entscheidungen zum elterlichen Sorgerecht
Alleinige Sorge der Kindesmutter wegen Unzumutbarkeit der Kooperation mit dem Vater
Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 24.05.2016 - 3 UF 139/15
- Das elterliche Sorgerecht steht bei nicht verheirateten Paaren nach dem Gesetz zunächst allein der Mutter zu.
- Beantragt ein Elternteil das gemeinsame Sorgerecht, kann dies vom Familiengericht auf Vater und Mutter übertragen werden, sofern es dem Kindeswohl nicht widerspricht.
- Die Übertragung ist ausgeschlossen, wenn - auch mit professioneller Hilfe - nicht zu erwarten ist, dass die gemeinsame Sorge praktisch funktionieren wird, weil die Eltern massive Kommunikationsschwierigkeiten und weder die Bereitschaft noch die Fähigkeit haben, in strittigen Fragen zu einer einverständlichen Lösung zu kommen.
Gemeinsame Sorge nicht verheirateter Eltern oder alleiniges Sorgerecht eines Elternteil
Oberlandesgericht Celle, Beschluss vom 19.05.2014 - 10 UF 91/14
- Besteht für nichteheliche Kinder die gemeinsame elterliche Sorge, ist der Mutter die alleinige Sorge für die Kinder zu übertragen, wenn ausgeschlossen ist, dass die Eltern zukünftig zum Wohle der Kinder zusammenwirken werden.
- Ist der Kindesvater wegen mehrerer schwerer und höchstpersönlicher Gewaltdelikte zum Nachteil der Kindesmutter rechtskräftig verurteilt, ist es der Mutter schlicht nicht zumutbar, mit dem Kindesvater in der für eine gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge erforderlichen Weise zu kommunizieren, ihn also über zumindest wesentliche Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten und mit ihm gemeinsam wesentliche Entscheidungen zu erörtern.
- Bereits ein Zwang der Kindesmutter zu entsprechender Kommunikation wäre mit der konkreten Gefahr des Wiederauflebens des seinerzeitigen Geschehens im Bewusstsein und ihrer ständigen Retraumatisierung verbunden. Dadurch würde auch das aktuelle verlässliche Umfeld der Kinder unmittelbar gefährdet werden.
Übertragung der Entscheidung über empfohlene Schutzimpfung auf einen Elternteil
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 03.05.2017 - XII ZB 157/16
- Das Familiengericht kann auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen, wenn sich die Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge in einer einzelnen Angelegenheit oder in einer bestimmten Art von Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, nicht einigen können (§ 1628 Satz 1 BGB).
- Schutzimpfungen sind keine alltägliche Angelegenheit und von erheblicher Bedeutung für das Kind: Die von der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO) empfohlenen Schutzimpfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Pneumokokken, Rotaviren, Meningokokken C, Masern, Mumps und Röteln sind anerkannter medizinischer Standard.
- Bei gemeinsamer elterlicher Sorge und Uneinigkeit kann das Familiengericht die Entscheidung über die Schutzimpfung dem Elternteil übertragen, der die Impfungen, die von der STIKO empfohlen werden, befürwortet, wenn keine besonderen Impfrisiken beim Kind vorliegen.
Erbrecht der Eltern nach Tod des Kindes: Anspruch auf Zugang zum digitalen Nachlasss
Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.07.2018 - III ZR 183/17
Die Klägerin ist die Mutter der Erblasserin, die im Alter von 15 Jahren auf einem U-Bahnhof aus ungeklärten Gründen von einer U-Bahn erfasst und tödlich verletzt wurde. Sie verlangt von der Beklagten, die das soziale Netzwerk Facebook betreibt, dass diese das in den Gedenkzustand versetzte Benutzerkonto der Tochter entsperrt, um Hinweise über mögliche Suizidabsichten der Tochter zu erhalten.
Beim Bundesgerichtshof hatte sie Erfolg:
- Das elterliche Personensorgerecht endet mit dem Tod des Kindes. Dessen Vermögen (Erbschaft) geht auf die Eltern als gesetzliche Erben über (§ 1922 BGB).
- Beim Tod des Kontoinhabers eines sozialen Netzwerks geht der Nutzungsvertrag mit allen Rechten und Pflichten auf die Erben über. Die Erben haben Anspruch auf Zugang zu dem Benutzerkonto und den darin vorgehaltenen Kommunikationsinhalten.
- Kann der Erbe ein Nutzerkonto nicht aufrufen, weil er das Passwort nicht kennt oder weil der Netzwerkbetreiber (hier: Facebook) wegen des Todes den Zugang gesperrt hat, kann er sich an den Diensteanbieter, beispielsweise den E-Mail-Provider, wenden. Dieser ist verpflichtet, den Erben Zugang zu dem Konto zu gewähren.
Anmerkung: Zwar erlischt das allgemeine Persönlichkeitsrecht mit dem Tod eines Menschen. Jedoch wird der Verstorbene durch das postmortale Persönlichkeitsrecht weiterhin gegen Eingriffe in seine Menschenwürde geschützt (Art. 1 GG und § 189 StGB).1
Deshalb ist fraglich, ob die ausschließlich auf die gesetzliche Regelung gestützte vermögensrechtliche Argumentation Eingriffe in das verfassungsrechtlich geschützte postmortale Persönlichkeitsrecht eines jugendlichen Verstorbenen und in das informationelle Selbstbestimmungsrecht seiner Kommunikationspartner usw. auch dann rechtfertigt, wenn der höchstpersönliche Bereich eines Jugendlichen bzw. seine Vertrauensbeziehungen zu Freunden, Bekannten, getrennt lebenden Eltern und schweigepflichtigen professionellen Beratern betroffen sind.2
Zwar beschränkt sich nach allgemein anerkannter Auffassung das Sorgerecht der Eltern nach dem Tod des Kindes auf die Totenfürsorge, die insbesondere das Recht umfasst, über Art und Ort der Bestattung zu bestimmen. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs wird den Eltern weitergehend die Verfügungsmacht über die personenbezogenen Daten des Kindes und dessen Vertrauenspersonen eingeräumt.
Beispiele: E-Mails, die an Freunde, Berater, Therapeuten gerichtet sind bzw. von diesen Personen gesendet wurden.
Der Entscheidung der Eltern unterliegt es, ob sie das Persönlichkeitsrecht des Kindes respektieren und deshalb nicht auf Daten zugreifen, die erkennbar dem persönlichen Bereich zuzuordnen sind und keine sonstige, insbesondere vermögensrechtliche Bedeutung haben.
Die Datenethikkommission hat der Bundesregierung empfohlen, "Fragen rund um den ‚digitalen Nachlass‘ mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs von 2018 nicht als erledigt anzusehen. Die praktisch lückenlose Aufzeichnung von digital geführter Kommunikation, die in vielen Fällen an die Stelle des flüchtig gesprochenen Wortes tritt, und ihre Aushändigung an Erben bedeutet eine neue Dimension von Gefährdung für die Privatheit."
Auszug: Gutachten der Datenethikkommission, Seite 111
"Ist ein ganzes Nutzerkonto seiner Art nach ohne Vermögenswert, aber besonders persönlichkeitssensitiv (etwa ein Online-Konto in einer Gruppe "Anonymer Alkoholiker"), dürfte es jedoch vorzuziehen sein, es aufgrund des höchstpersönlichen Charakters ganz vom Erbrecht auszunehmen. Soweit - auch zum Schutz der Kommunikationspartner des Verstorbenen - das Telekommunikationsgeheimnis Platz greift, ist der Gesetzgeber ohnehin nach wie vor aufgerufen, die Normkollision mit dem grundrechtlich verbürgten Erbrecht aufzulösen, etwa durch einen entsprechenden Hinweis im Erbrechtsteil des BGB."3
1 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24.02.1971 - 1 BvR 435/68 Rn 61;
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29.06.2017 - 7 C 24.15, Rn 53.
2 Zum Recht Minderjähriger auf Persönlichkeitsschutz:
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.09.2015 - VI ZR 175/14, Rn 19.
3 www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/it-digitalpolitik/gutachten-
datenethikkommission.pdf - Aufruf am 25.11.2019
Der Beitrag wurde im November 2019 beim vierten Urteil geändert und weicht daher inhaltlich von der gedruckten Fassung in der Ausgabe 4/2017 (Oktober 2017) des Recht-Informationsdienstes ab.