Entschädigungs- und Ersatzleistungen wegen sexuellen Missbrauchs
Nach den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften - beispielsweise der Krankenversicherung, Rentenver-sicherung, Unfallversicherung, Sozialhilfe usw. - können Betroffenen von sexuellem Missbrauch Ansprüche auf Sozialleistungen zustehen.
Darüber hinaus kommen Entschädigungsansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (Abschnitt 1), zivilrechtliche Ansprüche gegen den Täter persönlich und/oder dessen Arbeitgeber (Abschnitt 2) und nachrangig Leistungen aus dem Fonds Sexueller Missbrauch in Betracht.
1. Opferentschädigung wegen sexuellen Missbrauchs
Der Staat gewährt Opfern von Gewalttaten, die durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff oder durch dessen Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (§ 1 Opferentschädigungs-gesetz - OEG).
Als Gewalttat gelten alle Sexualdelikte, auch der ohne Anwendung körperlicher Gewalt erfolgte sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.
Die Entschädigung wird grundsätzlich nur gewährt, wenn die Tat im früheren Bundesgebiet nach dem 15. Mai 1976 bzw. im Gebiet der früheren DDR nach dem 2. Oktober 1990, unter besonderen Voraus-setzungen auch, wenn die Tat in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1976 begangen worden ist (§ 10 OEG).
1.1 Leistungsvoraussetzung: Relative Wahrscheinlichkeit des
Missbrauchs
Leistungen nach dem OEG können auch gewährt werden, wenn der Missbrauch nicht nachgewiesen
werden kann. Es reichen Angaben des Betroffenen aus, soweit sie nach den Umständen des Falles "glaubhaft" erscheinen.
Das ist besonders wichtig in den häufigen Fällen, in denen außer dem Täter, der alles bestreitet, keine Tatzeugen vorhanden sind. Eine hohe Wahrscheinlichkeit ist nicht erforderlich. Es kommt darauf an, "ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können" (Bundessozialgericht, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R).
1.2 Leistungen
Die Missbrauchsopfer erhalten auf Antrag Leistungen entsprechend dem Bundesversorgungsgesetz
beispielsweise
- Heil- und Krankenbehandlungen (auch Psychotherapie bei psychischen Schäden),
- Rentenleistungen (abhängig von der Schwere der Schädigungsfolgen und gegebenenfalls vom Einkommen),
- Fürsorgeleistungen, bei Bedarf durch besondere Hilfen im Einzelfall (z. B. zur Teilhabe am Arbeitsleben, zur Pflege, zur Weiterführung des Haushalts sowie ergänzend zum Lebensunterhalt),
- Rehabilitationsmaßnahmen (z. B. Kuraufenthalte).
Die Leistungen nach dem OEG sind teilweise für die Betroffenen günstiger als die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung: Zuzahlungen sind nicht zu erbringen, Fahrtkosten zum Arzt werden erstattet und zu den von der Krankenkasse bewilligten Therapiestunden, können zusätzliche bewilligt werden.
Auch vorläufige Leistungen sind möglich: Schon vor dem Ausgang eines Strafverfahrens können Betroffene Unterstützung erhalten. Auf eine Strafanzeige kann in für Betroffene besonders belastenden Fällen - dazu gehört in der Regel sexueller Missbrauch im familiären Bereich - verzichtet werden.
Werden Leistungen nach OEG erbracht, fordert die Verwaltung sie vom Täter zurück. Dieser ist frühzeitig von der Antragstellung zu informieren. Wenn im Einzelfall erhebliche Nachteile für die Antrag stellende Person oder deren Angehörige zu befürchten sind, kann darauf verzichtet werden. Diese Nachteile oder auch Gründe für den Verzicht auf eine Anzeige sollten bei Antragstellung schriftlich dargelegt werden.
→ siehe auch den Beitrag "Entschädigung für Opfer von Gewalttaten"
1.3 Information und Beratung
In NRW sind die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe für die Durchführung des OEG zuständig. Sie beraten und informieren die Opfer von Gewalttaten und ihre Angehörigen (www.lvr.de bzw. www.lwl.org/soziales) und haben eine kostenlose Telefonnummer (0800/654-654-6) eingerichtet.
Wird diese Nummer von einem Festnetzanschluss in Nordrhein-Westfalen aus gewählt, wird direkt mit einem geschulten Ansprechpartner verbunden.
Hilfeleistungen für Opfer bieten auch der "Weiße Ring" und Beratungsstellen freier Träger an.
1.4 Beantragung von Leistungen
Anträge auf Entschädigung sind an den zuständigen Landschaftsverband zu richten.
Der Antrag ist nicht fristgebunden. Leistungen werden rückwirkend ab dem Schädigungstag gewährt, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach dem schädigenden Ereignis gestellt wird. Bei späterer Antragstellung werden Leistungen ab dem Antragsmonat bewilligt.
2. Zivilrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz und
Schmerzensgeld wegen sexuellen Missbrauchs
Der sexuelle Missbrauch ist als massive Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung eine
unerlaubte Handlung im Sinne der §§ 823ff BGB, die den Täter zum Ersatz des materiellen Schadens (Schadenersatz) und zum Ausgleich immaterieller Nachteile (Schmerzensgeld) verpflichten.
Fanden sexuelle Übergriffe in einem Krankenhaus, einem Heim usw. oder im Rahmen einer Maßnahme eines öffentlichen oder privaten Trägers statt, können dem Betroffenen Schadensersatz und Schmerzensgeld auch wegen Verletzung der Pflichten aus dem Vertragsverhältnis mit dem Träger der Einrichtung/Maßnahme zustehen, wenn dieser seine Aufsichts- bzw. Organisationspflicht verletzt hat oder wenn er für das schuldhafte Verhalten seines Mitarbeiters einstehen muss (§§ 276, 278, 823, 831 BGB).
Beispiel: Der Träger eines Krankenhauses ist zum Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens verpflichtet, wenn ein Krankenpfleger kranke Kinder sexuell missbraucht. Der Träger haftet auch, wenn ihm kein Schuldvorwurf gemacht werden kann.
2.1 Geltendmachung von Ansprüchen
Vor der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche sollten Betroffene sich gründlich über Chancen und Risiken informieren, um Enttäuschungen möglichst zu vermeiden. Ein besonderes Problem besteht darin, dass der Betroffene grundsätzlich nur Erfolg mit einer Klage haben kann, wenn er nachweisen kann, dass
- er vom beklagten Täter sexuell missbraucht worden ist,
- die von ihm behaupteten Schäden Folgen des sexuellen Missbrauchs und nicht durch andere Ereignisse/Lebensumstände herbeigeführt sind.
Die Geltendmachung von Ansprüchen gegen den Täter persönlich ist im Übrigen nur dann sinnvoll, wenn dieser zahlungsfähig ist.
Haftet dagegen der Träger der Einrichtung/Maßnahme für das Verhalten des Täters, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass er bzw. seine Betriebshaftpflichtversicherung Schadensersatz leisten kann.
2.2 Verjährung
Schadensersatzansprüche wegen vorsätzlicher Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, die am 30.06.2013 noch nicht verjährt waren, verjähren in 30 Jahren (§ 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Bis zum Stichtag verjährten die Ansprüche schon in drei Jahren.
Die Verjährungsfrist beginnt erst mit Vollendung des 21. Lebensjahrs des Opfers. Lebte oder lebt der Betroffene bei Beginn der Verjährung mit dem Schuldner in häuslicher Gemeinschaft, so beginnt die Verjährungsfrist mit Beendigung der häuslichen Gemeinschaft.
3. Fonds Sexueller Missbrauch
Die Bundesregierung hat zum 1. Mai 2013 den "Fonds Sexueller Missbrauch" ins Leben gerufen. Der Fonds richtet sich nur an Betroffene, die nicht auf anderen gesetzlichen oder gerichtlichen Wegen Leistungen erhalten.
3.1 Antragsberechtigte
Leistungen aus dem Fonds können derzeit nur Menschen beantragen, die im familiären Umfeld
missbraucht wurden und zur Tatzeit minderjährig waren.
Darüber hinaus können auch Betroffene, die in ihrer Kindheit oder Jugend z. B. durch sogenannte
Fremdtäter oder in Schulen, Heimen oder kirchlichen Institutionen sexuell missbraucht wurden, Anträge stellen. Allerdings können diese zurzeit nicht bearbeitet und beschieden werden, da die Verhandlungen mit Ländern und nicht-staatlichen Institutionen zu Finanzierung von Leistungen noch nicht abgeschlossen sind.
Ob die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, wird von einer Clearingstelle geprüft. Ein Rechtsanspruch auf Leistungen aus dem Hilfsfonds besteht nicht.
3.2 Anlauf- und Beratungsstellen
Anlauf- und Beratungsstellen erteilen Auskünfte zu den Regelungen des Fonds über ein kostenloses und anonymisiertes Infotelefon (0800/400 105 0). Eine Liste mit allen Anlauf- und Beratungsstellen befindet sich auf der Webseite www.fonds-missbrauch.de. Auch das Antragsformular kann von dieser Webseite heruntergeladen werden.
Anträge können bis zum 31. Dezember 2019 gestellt und bei den Anlauf- und Beratungsstellen abgegeben werden.
Mitarbeiter in den Anlauf- und Beratungsstellen unterstützen die Antragsteller beim Ausfüllen ihres Antrags.
3.3 Antragsberechtigte
Gewährt werden nur Sachleistungen, die den Betroffenen helfen sollen, mit den Spätfolgen eines sexuellen Missbrauchs fertig zu werden: Psychotherapien, Kosten der individuellen Aufarbeitung des Missbrauchs, Unterstützung bei Weiterbildungs- und Qualifikationsmaßnahmen sowie Beratungs- und Betreuungskosten.
Die Hilfemaßnahmen setzen voraus, dass ein nachvollziehbarer Zusammenhang zwischen dem sexuellen Missbrauch und den heute noch vorhandenen Folgen besteht. Außerdem muss die Hilfe geeignet sein, die noch andauernden Folgen des Missbrauchs zu mindern.
Der Hilfsbetrag ist auf 10.000 Euro begrenzt. Für Menschen mit Behinderungen können zusätzlich Mehraufwendungen von bis zu 5.000 Euro übernommen werden.
Weitere Infos: www.hilfeportal-missbrauch.de und www.beauftragter-missbrauch.de.
Der Beitrag wurde im August 2019 umfangreich aktualisiert und weicht daher inhaltlich von der gedruckten Fassung der Ausgabe 4/2013 (Oktober 2013) des Recht-Informationsdienstes ab.