Eingliederungshilfe ab 2020 im Überblick
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) setzt die UN-Behindertenrechtekonvention in deutsches Recht um. Es soll die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen aus dem Fürsorgesystem des SGB XII - Sozialhilfe - herauslösen und die Rehabilitationsregelungen im SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - zusammenfassen, um die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu fördern.
1. Neuordnung des Rechts der Rehabilitation
Ab dem 1. Januar 2020 ist das SGB IX wie folgt gegliedert:
- In Teil 1 ist das für alle Rehabilitationsträger geltende Rehabilitations- und Teilhaberecht zusammengefasst (§§ 1-89 SGB IX).
- In Teil 2 wird die Eingliederungshilfe unter dem Titel "Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen" neu geregelt (Kapitel 1-7 §§ 90-122 und Kapitel 9-11 §§ 135-150 SGB IX). Sie wird aus dem SGB XII - Sozialhilfe herausgelöst und reformiert.
- Teil 3 enthält das weitgehend unveränderte Schwerbehindertenrecht (§§ 151-237 SGB IX).
Die Neuregelung erfordert, dass mit Wirkung zum 01.01.2020 neue Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Leistungserbringer sowie neue Verträge zwischen dem Leistungserbringer und der leistungsberechtigten Person zu schließen sind.
Der Landesrahmenvertrag gemäß § 131 SGB IX NRW über die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen wurde am 23. Juli 2019 von den Landschaftsverbänden, den kommunalen Spitzenverbänden, den Wohlfahrtsverbänden sowie den öffentlichen und privat-gewerblichen Leistungsanbietern unterzeichnet. Die Vereinbarung regelt den Rahmen für die Unterstützungsleistungen für circa 250.000 Menschen mit wesentlichen Behinderungen in Nordrhein-Westfalen ab 2020.
Den Landesrahmenvertrag als PDF-Dokument finden Sie hier.
Für die Umstellung auf diese neue Leistungs- und Vergütungssystematik gelten die detaillierten Regelungen in Anlage U zum Landesrahmenvertrag.
2. Aufgabe der Eingliederungshilfe
Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können (§ 90 Abs. 1 BTHG).
3. Träger der Eingliederungshilfe
In Nordrhein-Westfalen sind die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe Träger der Eingliederungshilfe (§ 94 SGB IX in Verbindung mit § 1 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes zum Neunten Buch Sozialgesetzbuch für NRW - AG-SGB IX NRW). Sie sind zuständig für die Fachleistungen für Menschen mit Behinderungen.
Nur die Fachleistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, die in der Herkunftsfamilie leben, verbleiben bis zum Abschluss einer ersten allgemeinen Schulausbildung bei den Kreisen und kreisfreien Städten, z. B. Leistungen der Interdisziplinären Frühförderung, für Schulbegleiter/Integrationshelfer, Behindertenfahrdienste und Hilfsmittel (§ 1 Abs. 2 AG-SGB IX NRW).
Die Landschaftsverbände sowie die Kreise und kreisfreien Städte sollen entweder als Träger der Eingliederungshilfe oder ergänzend als Träger der Sozialhilfe immer dann auch Leistungen der Hilfe zur Pflege - unabhängig vom Alter und von der Wohnform - erbringen, wenn Menschen mit Behinderung Eingliederungshilfe erhalten.
Die Träger der Eingliederungshilfe können Kreise, kreisfreie Städte und kreisangehörige Gemeinden zur Durchführung von Aufgaben heranziehen (§§ 2 und 3 AG-SGB IX NRW).
4. Leistungsberechtigter Personenkreis
Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben in der Bundesrepublik rund 17 Millionen behinderte bzw. von Behinderung bedrohte Menschen: Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Personen, die durch eine Behinderung wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (§ 99 SGB IX i. V. m. § 53 SGB XII und §§ 1-3 Eingliederungshilfe-Verordnung).
Als behindert gelten Menschen, wenn ihre "körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist." (§ 2 Abs. 1 SGB IX).
Mit dieser Bestimmung der Leistungsberechtigten orientiert sich der Gesetzgeber an der internationalen Klassifikation nach ICF (International Classification of functioning, Disability and Health). Wissenschaftlich erprobte Instrumente zur Erfassung einer Teilhabeeinschränkung nach ICF liegen allerdings noch nicht vor. Auch ist gesetzlich nicht bestimmt, welches Ausmaß die Einschränkung in den unterschiedlichen Lebensbereichen erreichen muss, um Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe zu erhalten.
5. Leistungen der Eingliederungshilfe
Die Leistungen der Eingliederungshilfe umfassen nach § 102 SGB IX:
- Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§§ 109-110),
- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 111),
- Leistungen zur Teilhabe an Bildung, neu in einer eigenen Leistungsgruppe zusammengefasst (§ 112),
- Leistungen zur sozialen Teilhabe, bisher "Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft" (§§ 113-116).
Leistungen nach Nummer 1 bis 3 gehen den Leistungen nach Nummer 4 vor.
Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen sollen im Rahmen der Eingliederungshilfe nicht mehr erbracht werden (Abschnitt 9).
6. Nachrang der Leistungen der Eingliederungshilfe
Anspruch auf Eingliederungshilfe hat nur, wer die erforderliche Hilfe nicht bereits von anderen Stellen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 91 Abs. 1 SGB IX).
Benötigt der Betroffene in vollstationären Pflegeeinrichtungen oder -räumlichkeiten Eingliederungshilfe und gleichzeitig Pflege, können die Eingliederungshilfeleistungen auch die Pflegeleistungen einschließlich der Hilfe zur Pflege umfassen (§ 103 Abs. 1 SGB IX): Die Pflegekasse und der Eingliederungshilfeträger vereinbaren, dass der Eingliederungshilfeträger die Leistungen der Pflegeversicherung auf der Grundlage des Leistungsbescheids der Pflegekasse erbringt.
Die Pflegekasse erstattet dem Eingliederungshilfeträger die Kosten der von ihr zu tragenden Leistung. Der Abschluss der Vereinbarung kann allerdings nicht ohne die Zustimmung des Betroffenen erfolgen (§13 Abs. 4 SGB XI).
Außerhalb von Einrichtungen und Räumlichkeiten der Eingliederungshilfe kann die Eingliederungshilfe die Hilfe zur Pflege umfassen (§ 103 Abs. 2 SGB IX), wenn die Betroffenen bereits vor Erreichen der Altersgrenze für die Regelaltersrente Leistungen der Eingliederungshilfe bezogen haben, dann allerdings lebenslang. Bei Menschen, die nach Erreichen der Altersgrenze für die Regelaltersrente eine eingliederungshilferelevante Behinderung erfahren, umfasst die Eingliederungshilfe die Hilfe zur Pflege nicht.
7. Leistungsformen
Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden als Sach-, Geld- oder Dienstleistung erbracht (§ 105 Abs. 1 SGB IX).
Zur Dienstleistung gehören insbesondere die Beratung und Unterstützung in Angelegenheiten der Leistungen der Eingliederungshilfe sowie in sonstigen sozialen Angelegenheiten (§ 105 Abs. 2 SGB IX).
Leistungen zur Sozialen Teilhabe können mit Zustimmung der Leistungsberechtigten auch in Form einer pauschalen Geldleistung erbracht werden, soweit es dieser Teil vorsieht(§ 105 Abs. 3 SGB IX).
Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden auf Antrag auch als Teil eines Persönlichen Budgets (§ 29 SGB IX) ausgeführt (§ 105 Abs. 4 SGB IX).
8. Antragserfordernis
Die Leistungen der Eingliederungshilfe nach diesem Teil des SGB IX werden nur auf Antrag erbracht (§ 108 SGB IX). Das Bekanntwerden des Bedarfs reicht nicht mehr aus. Die Leistungen werden frühestens ab dem Ersten des Monats der Antragstellung erbracht, wenn zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen bereits vorlagen.
Ein Antrag ist nicht erforderlich, wenn der Bedarf im Rahmen eines Gesamtplanungsverfahrens ermittelt worden ist (Abschnitt 12).
9. Trennung von Eingliederungshilfe und Hilfe zum
Lebensunterhalt
Bisher war bei stationären Leistungen auch der in der Einrichtung erbrachte Lebensunterhalt einbegriffen. Zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung gehört aber auch die Fähigkeit, über eigenen Wohnraum zu verfügen und darin selbständig zu leben.
Deshalb verpflichtet die Neuregelung zur Trennung der Eingliederungshilfe als Fachleistung von der Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. der Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Diese Trennung führt zu zwei unterschiedlichen Leistungsträgern:
- für Fachleistungen der Eingliederungshilfe sind die Träger der Eingliederungshilfe und
- für existenzsichernde Leistungen die Träger der Sozialhilfe zuständig.
Eine Unterscheidung von ambulanten, stationären oder teilstationären Leistungen erfolgt nicht mehr.
Der Leistungsberechtigte hat einen Rechtsanspruch gegenüber dem Leistungsträger auf Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung bis zur Angemessenheitsgrenze (§ 42a SGB XII).
10. Wunsch- und Wahlrecht
Das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten ist auch zu berücksichtigen, soweit seine Wünsche angemessen sind (§ 104 Abs. 2 SGB IX). Nicht angemessen sind Wünsche, wenn die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung von Leistungserbringern, mit denen eine Vereinbarung besteht, unverhältnismäßig übersteigt, und der Bedarf nach der Besonderheit des Einzelfalles durch die vergleichbare Leistung gedeckt werden kann. Der grundsätzliche Vorrang einer ambulanten Leistung besteht somit nicht, wenn diese erheblich mehr Kosten als eine teilstationäre oder stationäre Leistung verursacht.
11. Instrumente der Bedarfsermittlung
Der Träger der Eingliederungshilfe hat die erforderlichen Eingliederungsleistungen unter Berücksichtigung der Wünsche des Leistungsberechtigten festzustellen. Die Ermittlung des individuellen Bedarfes des Leistungsberechtigten muss durch ein Instrument erfolgen, das sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit orientiert (§ 118 SGB IX). Die personenzentrierte Bedarfsermittlung und -feststellung soll sich auf alle Lebenslagen des Menschen mit Behinderung erstrecken, sich ausschließlich am individuellen Bedarf und den persönlichen Lebensvorstellungen ausrichten und die gesundheitsbezogenen Bedarfe einbeziehen.
Das Instrument hat die Beschreibung einer nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Aktivität und Teilhabe in den folgenden Lebensbereichen vorzusehen:
- Lernen und Wissensanwendung,
- allgemeine Aufgaben und Anforderungen,
- Kommunikation,
- Mobilität,
- Selbstversorgung,
- häusliches Leben,
- interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,
- bedeutende Lebensbereiche und
- Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
Die Landschaftsverbände haben zur Bedarfsermittlung bisher einen 19 Seiten umfassenden Fragebogen eingesetzt.
Den Fragebogen als PDF-Dokument finden Sie hier.
12. Gesamtplanverfahren
Mit Zustimmung des Leistungsberechtigten ist ein Gesamtplanverfahren stets durchzuführen, wenn Leistungen der Eingliederungshilfe in Betracht kommen. Zuständig ist der Träger der Eingliederungshilfe (§§ 119-122 SGB IX).
Sind mehrere Rehabilitationsträger beteiligt oder Leistungen verschiedener Leistungsgruppen erforderlich, ist zusätzlich ein Teilhabeverfahren nach § 19 SGB IX durchzuführen.
Mit dem Gesamtplan sollen der Teilhabeprozess gesteuert und koordiyniert, die Wirkung der Leistungen kontrolliert und dokumentiert werden.
An seiner Aufstellung sind der Leistungsberechtigte, eine Person seines Vertrauens, andere Beteiligte und Rehabilitationsträger sowie ggfs. auch die Pflegekasse, der Träger der Hilfe zur Pflege, das Sozialamt und die in § 121 Abs. 3 genannten Personen und Stellen zu beteiligen.
Der Gesamtplan bedarf der Schriftform (§ 121 Abs. 2), muss mindestens die in § 121 Abs. 4 genannten Inhalte aufweisen und dem Leistungsberechtigten zur Verfügung gestellt werden (§ 121 Abs. 2,4 und 5). Er soll regelmäßig, spätestens nach zwei Jahren überprüft und fortgeschrieben werden (§ 121 Abs. 5 SGB IX).
13. Entscheidung über die bedarfsdeckenden
Leistungen
Nach Abschluss der Gesamtplankonferenz stellen der Träger der Eingliederungshilfe und die beteiligten Leistungsträger ihre Leistungen innerhalb der Fristen nach den §§ 14 und 15 SGB IX fest (§ 120 Abs. 1 SGB IX).
Der Träger der Eingliederungshilfe erlässt auf Grundlage des Gesamtplanes nach § 121 den Verwaltungsakt über die festgestellte Leistung. Der Verwaltungsakt enthält mindestens die bewilligten Leistungen und die jeweiligen Leistungsvoraussetzungen (§ 120 Abs. 2 SGB IX).
14. Entscheidung im Eilfall
In einem Eilfall hat der Träger Leistungen der Eingliederungshilfe schon vor Beginn der Gesamtplankonferenz vorläufig zu erbringen, wenn sonst schwerwiegende Schäden eintreten könnten.1
Der Umfang der vorläufigen Gesamtleistung bestimmt sich nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 120 Abs. 4 SGB IX).
Informationen für Menschen mit Behinderung
- "Das Bundes-Teilhabe-Gesetz für Menschen mit Behinderung in Wohn-Einrichtungen. Was muss ich bis Ende 2019 machen? Die wichtigsten Schritte in Einfacher Sprache"
- "Wie bekomme ich Leistungen zur Teilhabe? Neue Regelungen nach dem Bundes-Teilhabe-Gesetz. Eine Einführung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in Leichter Sprache."
- "Checkliste zum Bundes-Teilhabe-Gesetz für Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen. Woran muss ich bis Ende 2019 gedacht haben? In Schwerer Sprache."
www.lebenshilfe.de/informieren/wohnen/checkliste-zum-bundes-teilhabe-gesetz
1 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.03.2019 - 1 BvR 169/19.