Datenschutz: Akteneinsicht der Eltern in die Sozialdaten einer Jugendhilfeakte
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.04.2020, 12 S 579/2
Der Kläger verlangt Einsicht in die vollständige Verwaltungsakte des Jugendamtes hinsichtlich seiner 15-jährigen Tochter, um ermitteln und feststellen zu können, auf welcher Grundlage ihm eine Kindeswohlgefährdung durch das Jugendamt unterstellt worden ist.
Die Tochter war ohne sein Wissen in der Schule nach Vorkommnissen befragt worden, die eine Kindeswohlgefährdung vermuten ließen.
Der Kläger meint, es liege auf der Hand, dass eine Ermittlung wegen einer angeblichen Kindeswohlgefährdung seine rechtlichen Interessen massiv beeinträchtige. Das sich aus seinen Elternrechten ergebende allgemeine Informationsrecht führe dazu, dass der Beklagte ihm gegenüber zur Gewährung der Akteneinsicht verpflichtet sei.
Die Kindesmutter und das Kind lehnten eine Einsicht ab.
Das Verwaltungsgericht Freiburg wies den Antrag des Klägers zurück und ließ die Berufung nicht zu. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde vom Verwaltungsgerichtshof abgelehnt:
- Sozialdaten, die dem Mitarbeiter eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zum Zwecke persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sind, dürfen von diesem nur weitergegeben oder übermittelt werden mit der Einwilligung dessen, der die Daten anvertraut hat (§ 65 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII).
- Das allgemeine Informationsrecht, das Eltern aufgrund des Elternrechts zusteht, wird durch spezialgesetzliche Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII eingeschränkt.
- Der Gesetzgeber erkennt mit dem besonderen Weitergabeverbot des § 65 SGB VIII an, dass die für die persönliche und erzieherische Hilfe erforderliche unverzichtbare Offenheit und Mitwirkungsbereitschaft nur entstehen kann, wenn dem einzelnen Jugendamtsmitarbeiter anvertraute Sozialdaten - bis auf klar definierte Ausnahmetatbestände - von diesem nicht weitergegeben werden dürfen. Ohne eine solche Regelung kann sich das für das Hilfeleistungsverhältnis notwendige persönliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Jugendamtsmitarbeiter und dem Klienten nicht entwickeln. Die "rigorose Einschränkung der Informationsweitergabe" ist daher durch das staatliche Interesse an einer effektiven Hilfeerbringung im Interesse der Gewährleistung des Kindeswohls gerechtfertigt.
Anmerkung: Der Beschluss bezieht sich auf Jugendhilfedaten in den Akten eines Jugendamtes und entspricht der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte.1
Er hat aber auch unmittelbare Bedeutung für die Jugendhilfedaten, die caritative Einrichtungen gespeichert haben bzw. verarbeiten; denn die Anordnung über den Sozialdatenschutz in der freien Jugendhilfe in kirchlicher Trägerschaft vom 14.01.2004 2 bleibt bis zu einer Neuregelung in Kraft (§ 58 Abs. 2 Abs. 1a KDG):
"In der freien Jugendhilfe in kirchlicher Trägerschaft sind für die erhobenen, verarbeiteten und genutzten Sozialdaten das Sozialgeheimnis und dessen Sozialdatenschutzvorschriften (§ 35 Abs. 1, Abs. 3 und 4 SGB I Sozialgesetzbuch I, §§ 62-68 Sozialgesetzbuch VIII, §§ 67-80, §§ 83 und 84 Sozialgesetzbuch X) entsprechend anzuwenden".
Für die kirchliche Jugendhilfe gelten somit die staatlichen Regelungen über den Sozialdatenschutz entsprechend. Sie haben Vorrang vor den entsprechenden Regelungen des KDG (§ 2 Abs. 2 KDG):
- Sozialdaten dürfen zur Erfüllung anderer Aufgaben nur übermittelt werden, soweit dadurch der Erfolg der Jugendhilfeleistung nicht in Frage gestellt wird (§ 64 SGB VIII entsprechend).
- Sozialdaten, die dem Mitarbeiter eines Trägers der kirchlichen Jugendhilfe zum Zwecke persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sind, unterliegen einer besonderen Schweigepflicht. Sie dürfen ohne Einwilligung des Anvertrauenden von dem Mitarbeiter nur weitergegeben oder übermittelt werden, wenn und soweit dies zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos bzw. zur Abwendung einer akuten Gefahr des Kindes erforderlich ist (§ 65 SGB VIII entsprechend).
Da jüngere Kinder besonders häufig Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten sind, steht der Vertrauensschutz grundsätzlich jedem Kind zu, das sich an eine Mitarbeiterin wendet, von der es Hilfe bzw. zumindest Mitleid oder Trost erwartet (z. B. vierjähriges Kind im Kindergarten). Deshalb sind in diesen Fällen auch kirchliche Jugendhilfeträger und deren Mitarbeiter nicht verpflichtet, Eltern Auskünfte zu erteilen oder Einsicht in Akten zu gewähren.
Auch nach der gesetzlichen Regelung für Jugendämter, die für freie Träger entsprechend gilt, haben (alle) Kinder und Jugendliche Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis der Eltern als Personensorgeberechtigten, wenn die Beratung auf Grund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und die Mitteilung an die Eltern schädlich sein könnte (§ 8 Abs. 3 SGB VIII).
1 Siehe z. B. Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 07.11.2019 - 15 E 863/19.
2 Siehe z. B. Amtsblatt für das Erzbistum Köln 2004, Nr. 92.