Bundesverfassungsgericht: Legasthenie – Anerkennung als Behinderung/Vermerk im Abitur-Zeugnis
- Eine fachärztlich diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung stellt eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar.
- Eine Behinderung liegt vor, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beeinträchtigungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen von Gewicht.
- Die Defizite beim Lesen und Schreiben beruhen bei der Legasthenie nicht auf Ursachen ohne Krankheitswert wie etwa einer geringen Begabung, fehlenden Lerngelegenheiten oder unzureichenden Sprachkenntnissen, sondern auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand. Die Symptome dieser Funktionsstörung, nämlich eine deutliche Verlangsamung des Lesens, Schreibens und Textverständnisses und weit unterdurchschnittliche Rechtschreibfähigkeiten halten längerfristig, regelmäßig sogar lebenslang an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbstbestimmten Lebensführung sind gewichtig.
- Legasthene Schülerinnen und Schüler werden durch den Zeugnisvermerk gegenüber Schülerinnen und Schülern, bei denen die Rechtschreibleistungen bewertet werden, zwar benachteiligt, die Benachteiligung ist jedoch gerechtfertigt.
- Der Hinweis auf die Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen von Legasthenikern im Abitur in Form eines Zeugnisvermerks ist grundsätzlich zulässig, um offenzulegen, dass ein abweichender Leistungsmaßstab für die Notenbildung zugrunde gelegt wurde.
- Der Hinweis ist aber nicht zulässig, wenn er nur bei Legasthenikern, nicht aber bei Leistungseinschränkungen aufgrund anderer Behinderungen oder Leistungsdefizite aufgrund Ermessensentscheidung der Lehrkräfte in das Abiturzeugnis aufgenommen wird. Ein Zeugnismerk, der ausschließlich bei Legasthenikern auf den im Abitur gewährtem Notenschutz hinweist, stellt deshalb eine unzulässige Benachteiligung dar.
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 22.11.2023 - 1 BvR 2577/15
Anmerkung: Die Anerkennung der Legasthenie als Behinderung wird dazu führen, dass die Nachteilsausgleiche, die Menschen mit Behinderung zustehen, zukünftig auch von Legastheniker/innen problemlos in Anspruch genommen werden können.
Der benachteiligende Hinweis auf die Legasthenie ist nur zulässig, wenn die Schule auch bei Leistungseinschränkungen anderer Schüler/innen einen entsprechenden Hinweis einfügt.