Berufskrankheit: Anerkennung wegen Tätigkeit in caritativen Einrichtungen
Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist im Siebten Buch Sozialgesetzbuch - SGB VII zusammengefasst. Träger der gesetzlichen Unfallversicherung für nichtstaatliche Gesundheits- und Sozialeinrichtungen ist die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW).
1. Anerkennung als Berufskrankheit
Als Berufskrankheiten werden grundsätzlich nur Erkrankungen anerkannt, die in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen sind (Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung).
Erkrankungen, die bei Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen verbreitet sind, wie beispielsweise Muskel-, Skelett- oder Herz-Kreislauferkrankungen, werden in der Regel nicht anerkannt, auch wenn eine berufliche Verursachung wahrscheinlich ist.
Eine Aufnahme in die Liste erfolgt nur, wenn Arbeitnehmer bestimmter Berufsgruppen nach den Erkenntnissen der Medizin durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung besonderen Belastungen und Gefährdungen ausgesetzt sind.
Zusätzlich muss im Einzelfall die Krankheit wesentlich durch die schädigende Einwirkung bei der Arbeit verursacht sein.
Beispiel: Ein Kettenraucher, der an Lungenkrebs erkrankt, wird die Anerkennung als Berufskrankheit kaum erreichen können.
Bei Erkrankungen von Arbeitnehmern in besonderen Gefährdungsbereichen wird allerdings vermutet, dass es sich um eine Berufskrankheit handelt, wenn Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der unfallversicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden.
Beispiel: Mitarbeiter im Gesundheitsdienst bzw. in sozialen Einrichtungen, die einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt und an COVID-19 erkranken, müssen nicht nachweisen, wie und wo sie sich während ihrer dienstlichen Tätigkeit infiziert haben.
2. Infektionskrankheiten der Mitarbeiter im
Gesundheitsdienst und in sozialen Einrichtungen
Im Merkblatt 3101 zur Berufskrankheiten-Verordnung werden die von Mensch zu Mensch übertragbaren Krankheiten der Mitarbeiter genannt, die als Berufskrankheiten anerkannt werden, wenn der Mitarbeiter im Gesundheitsdienst, in sozialen Einrichtungen beruflich oder ehrenamtlich bzw. kurzfristig mit Wartungs-, Instandhaltungs- oder Entsorgungsarbeiten beschäftigt und einer Infektionsgefahr besonders ausgesetzt war.
www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Berufskrankheiten/pdf/Merkblatt-3101.pdf
3. Bandscheibenbedingte Erkrankungen der
Lendenwirbelsäule
In den Merkblättern 2108 und 2010 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung wird näher beschrieben, dass u. a. bei Beschäftigten in der Kranken-, Alten- und Behindertenpflege bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit anerkannt werden können, wenn
- langjähriges, in der Regel mindestens zehnjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten, wodurch die Mega-Newton-Stunden Lebensdosis (MNh) überschritten wird,
(Das Bundessozialgericht geht bei Männern von einem MNh-Wert von 12,5 MNh und bei Frauen von 8,5 MnH aus)
oder - ein besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen oder
- langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung
für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Bundessozialgericht, Urteile vom 23.04.2015 - B 2 U 10/14 und vom 06.09.2018 - B 2 U 10/17R
4. Hüftgelenksarthrose
Die Hüftgelenksarthrose hat die Berufskrankheiten-Nummer 2116. Sie kann als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn
- die erkrankte Person während ihres Arbeitslebens mindestens zehnmal pro Tag Lasten mit einem Gewicht von mindestens 20 Kilogramm = 200 kg) gehoben oder getragen hat,
- das Gesamtgewicht der im Arbeitsleben bewegten Last mindestens 9.500 Tonnen beträgt,
Beispiel: Eine Krankenschwester mit dreißigjähriger Berufstätigkeit an 6.000 Arbeitstagen müsste nachweisen, dass sie in jeder Schicht durchschnittlich 23 Patienten mit einem Durchschnittsgewicht von 70 Kilogramm gehoben oder getragen hat. - das Krankheitsbild die medizinische Diagnose "Koxarthrose" erfüllt.
Dazu müssen chronische Hüftgelenksbeschwerden in Form von Schmerzen in Ruhe und nachts, andauernde Morgensteifigkeit länger als 30 und kürzer als 60 Minuten und/oder eine schmerzhafte Innenrotation vorliegen.
Darüber hinaus muss ein röntgenologischer Nachweis von Femoralen und/oder acetabulären Osteophyten, entsprechend Grad 2 nach Kellgren und Lawrence oder Gelenkspaltverschmälerung (superior, axial und/oder medial) entsprechend Grad 3 nach Kellgren und Lawrence sowie mindestens eine Funktionsstörung vorliegen. Dafür infrage kommen Einschränkungen der Hüftgelenksbeweglichkeit, insbesondere der Innenrotation, aber auch der Außenrotation, der Abduktion, der Adduktion sowie der Flexion oder der Extension, ein hinkendes Gangbild, eine reduzierte Gehstrecke, Krepitation bei der Gelenkbewegung, Kapselschwellung oder Hüftgelenkserguss.
Die Diagnose erfolgt entsprechend der Leitlinie Koxarthrose der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie anhand der Anamnese sowie des klinischen und radiologischen Befunds.
https://dserver.bundestag.de/brd/2021/0388-21.pdf, Seite 7f.
5. Lungenkrebs durch Passivrauchen
Lungenkrebs durch Passivrauchen hat die Berufskrankheiten-Nummer 4116. Als Berufskrankheit wird Lungenkrebs bei Mitarbeitern caritativer Einrichtungen nur ausnahmsweise anerkannt, wenn der Mitarbeiter
- am Arbeitsplatz mindestens 40 Jahre einer Passivrauchexposition von mindestens 50 in der Raumluft ausgesetzt war.
Die berufliche Mindestexpositionsdauer von 40 Jahren kann unterschritten werden, wenn die berufliche Passivrauchexposition entsprechend höher ist und das Produkt zwischen Expositionsdauer und berechneter Nikotinkonzentration 2000 Milligramm Nikotin/Kubikmeter x Jahre) erreicht. - selbst nie oder maximal bis zu 400 Zigarettenäquivalente aktiv geraucht hat.
Zigarren werden 4, Zigarillos 2 und 1 Gramm Tabak einer Zigarette gleichgestellt. - das Krankheitsbild die Diagnose "Lungenkrebs" erfüllt. Die Diagnosesicherung erfolgt neben bildgebenden Verfahren in der Regel im Rahmen einer Bronchoskopie und einer histologischen Untersuchung des gewonnenen Lungengewebes.
https://dserver.bundestag.de/brd/2021/0388-21.pdf, Seite 8f.
6. Keine Anerkennung von posttraumatischen
Belastungsstörungen als Berufskrankheit
Nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte ist die Feststellung einer nicht in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen Krankheit als "Wie-Berufskrankheit" nach § 9 Abs. 2 SGB VII von folgenden Voraussetzungen abhängig:
- Eine bestimmte Personengruppe muss bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sein. Diese besonderen Einwirkungen müssen nach neuen Erkenntnissen der Wissenschaft generell geeignet sein, Krankheiten solcher Art hervorzurufen.
- Die medizinischen Erkenntnisse dürfen aber bei der letzten Ergänzung der Berufskrankheiten-Liste noch nicht im ausreichenden Maß vorgelegen haben oder ungeprüft sein.
Diese Voraussetzungen sind nach der Auffassung des Landessozialgerichts Darmstadt nicht erfüllt von einem Straßenwart, der als Ersthelfer in dreißigjähriger Tätigkeit am Unfallort zur Aufnahme von Verkehrsunfällen mit zahlreiche Verletzten und Verkehrstoten bis zur Beendigung des Einsatzes von Polizei, Feuerwehr und Notarzt verbleiben musste und nach ärztlichem Gutachten an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litt.
Zwar seien Straßenwärter als Ersthelfer besonderen Einwirkungen durch die Konfrontation mit traumatischen Erlebnissen anderer Personen (Tod oder schweren Verletzungen) in einem erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Es lägen jedoch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse dafür vor, dass "(allein) die wiederholte Konfrontation der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen anderer Personen generell geeignet sei, eine PTBS zu verursachen."
Landessozialgericht Hessen, Urteil vom 13.08.2019 - L 3 145/14
Auch die Klage eines Pastoralreferenten auf Feststellung einer "Wie-Berufskrankheit” infolge Mobbings blieb beim Sozialgericht Augsburg und beim Landessozialgericht Bayern erfolglos. Er hatte u. a. behauptet, im sozial-karitativen und besonders kirchlichen Bereich bestehe ein erhöhtes und spezifisches Mobbingrisiko. Durch die erheblich eingeschränkten Mitarbeitervertretungsrechte sei der Betroffene kaum in der Lage sich gegen diese Übergriffe am Arbeitsplatz so zur Wehr zu setzen, wie es außerkirchlich Beschäftigten vom Gesetzgeber ermöglicht werde.
Das Sozialgericht wies darauf hin, dass nach derzeitigem medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand sowie der Rechtsprechung zu einschlägigen Sachverhalten das Anerkennen einer psychischen Erkrankung durch Mobbing aktuell nicht möglich ist. Zur Begründung verwies es auf die Stellungnahme des BMAS vom 29.03.2017. Danach sind derzeit keine bestimmten Personengruppen bekannt, bei denen sich das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) dauerhaft manifestiert.
Landessozialgericht Bayern, Urteil vom 12.05.2021 - L 3 U 11/20
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