Benachteiligung wegen Behinderung: Verbot des Mitführens eines Blindenführhundes
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30.01.2020 - 2 BvR 1005/18
Die blinde Frau hatte vor dem Landgericht beantragt, die Ärzte einer Gemeinschaftspraxis zur Duldung des Durch- und Zugangs zusammen mit ihrer Hündin zu verurteilen, weil sie nur auf diesem Wege ohne fremde Hilfe die Physiotherapiepraxis erreichen könne. Der andere mögliche Zugang über eine Stahlgittertreppe sei nicht zumutbar: Die Hündin scheue die Treppe, weil sie sich mit ihren Krallen im Gitter verfangen und verletzt habe. Sie selbst müsste die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre aufgeben, sich ohne ihre Führhündin einer unbekannten Person anvertrauen und, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen.
Ihre Klage war auch in der Berufungsinstanz erfolglos geblieben.
Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin als offensichtlich begründet stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen:
- Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen.
- Eine verbotene Benachteiligung liegt insbesondere bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Erfasst werden auch Benachteiligungen, bei denen sich der Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt.
- Der Staat trägt eine besondere Verantwortung für behinderte Menschen. Deshalb fließt das Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen auch in die Auslegung des Zivilrechts ein. Das Recht auf persönliche Mobilität aus Art. 20 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist bei der Auslegung zivilrechtlicher deutscher Rechtsvorschriften ebenfalls zu berücksichtigen. Deshalb wird die Benachteiligung einer blinden Frau durch die Ärzte von § 19 Abs. 1 Nr. 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erfasst.
- Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften Personen wegen ihrer Behinderung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise ohne sachliche Rechtfertigung benachteiligen können. Das scheinbar neutral formulierte Verbot, Hunde in die Praxis mitzuführen, benachteiligt die Beschwerdeführerin wegen ihrer Sehbehinderung in besonderem Maße. Denn es verwehrt ihr, die Praxisräume selbständig zu durchqueren, was sehenden Personen ohne weiteres möglich ist.
- Die Benachteiligung durch das Durchgangsverbot ist nicht durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt: Das Durchgangsverbot ist nicht erforderlich, um einer Infektionsgefahr in der Praxis vorzubeugen. Sowohl das Robert Koch-Institut als auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft gehen davon aus, dass aus hygienischer Sicht in der Regel keine Einwände gegen die Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräume bestehen.
Auch die Sauberkeit der Praxisräume wird durch einen gepflegten Hund nicht nennenswert beeinträchtigt, denn der Wartebereich, den die Beschwerdeführerin durchqueren muss, wird von Patienten mit Straßenschuhen und in Straßenkleidung betreten bzw. mit einem Rollstuhl aufgesucht. - Bei der Prüfung der Angemessenheit des Durchgangsverbots sind abzuwägen
a) die auf Seiten der Ärzte betroffenen Interessen - die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 GG) und
die allgemeine Handlungsfreiheit in Form der Privatautonomie (Art. 2 GG) -
b) gegen das Recht der Beschwerdeführerin, nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt zu
werden (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG).
Während die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte bei einer Duldung des Durchquerens der Praxis mit Hund allenfalls in geringem Maße beeinträchtigt werden, bringt das Verbot erhebliche Nachteile für die Beschwerdeführerin. Es wird ihr unmöglich, wie nicht behinderte Personen selbstständig und ohne fremde Hilfe in die von ihr bevorzugte Physiotherapiepraxis zu gelangen. - Das Benachteiligungsverbot untersagt es, behinderte Menschen von Betätigungen auszuschließen, die nicht Behinderten offenstehen, wenn nicht zwingende Gründe für einen solchen Ausschluss vorliegen. Dieser Auslegung liegt das auch in Art. 1 und Art. 3 Buchstabe a und c der Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck kommende Ziel zugrunde, die individuelle Autonomie und die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten.
- Mit diesem Ziel und dem dahinterstehenden Menschenbild ist es nicht vereinbar, die Beschwerdeführerin darauf zu verweisen, ihre Führhündin vor der Praxis anzuketten und sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen. Deshalb müssen die Interessen der Ärzte hinter dem Recht der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zurückstehen. Das Durchgangsverbot ist unverhältnismäßig und benachteiligt die Beschwerdeführerin in verfassungswidriger Weise.