Aufsichtspflicht: Krankenhaus haftet für Sprung dementer Patientin aus dem Fenster
Oberlandesgericht Hamm , Urteil vom 17.01.2017 - 26 U 30/16
- Ein Krankenhaus und die für eine demente Patientin verantwortlichen Krankenschwestern können zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, den eine Patientin erleidet, die aus dem ungesicherten Fenster ihres Krankenzimmers entweichen wollte, in die Tiefe stürzte und sich dabei verletzte.
- Die für die Pflege von Patienten verantwortlichen Krankenschwestern sind aufgrund ihre Arbeitsvertrags verpflichtet, die Fürsorgepflichten und Verkehrssicherungspflichten des Krankenhauses zu erfüllen und die Patienten im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren, soweit ihr körperlicher und geistiger Zustand dies erfordert habe, vor Schäden und Gefahren schützen müssen.
- Verletzen die Krankenschwestern diese Pflichten und leistet der Krankenhausträger Schadensersatz, kann er von ihnen im Wege des Rückgriffs Erstattung verlangen, wenn sie grobfahrlässig gehandelt haben.
Sachverhalt: Die demente Patientin wurde im Januar 2011 aufgrund eines Schwächeanfalls stationär in das Krankenhaus der Beklagten eingewiesen. Am Aufnahmetag gab sie sich unruhig, aggressiv, verwirrt und desorientiert. Sie zeigte Weglauftendenzen und wollte die Station verlassen. Mit verabreichten Neuroleptika konnte die Patientin nicht ruhig gestellt werden. Um sie am Weglaufen zu hindern, verstellten Krankenschwestern der Beklagten deswegen unter anderem die Tür des Krankenzimmers der Patientin von außen mit einem Krankenbett.
Am späten Abend des dritten Behandlungstages kletterte die Patientin unbemerkt aus dem Zimmerfenster. Dieses Fenster war für sie über einen davor stehenden Tisch und einen Stuhl zu erreichen und über einen nicht verschließbaren Fenstergriff zu öffnen. Sie stürzte auf ein circa fünf Meter tiefer liegendes Vordach.
Die Krankenschwestern hätten auch einen Fluchtversuch durch das Fenster des Krankenzimmers in Betracht ziehen und deshalb das Öffnen dieses Fensters durch die Patientin verhindern oder diese in ein ebenerdig gelegenes Krankenzimmer verlegen müssen. Die notwendigen Vorkehrungen gegen ein Hinaussteigen der Patientin aus dem Fenster des Krankenzimmers seien ihnen möglich und zumutbar gewesen.
Das pflichtwidrige Unterlassen dieser Maßnahme begründet ihre Haftung und die Haftung des Krankenhauses für die erlittenen erhebliche Verletzungen, u. a. Rippenfrakturen, eine Lendenwirbel-, eine Oberschenkel- und eine Beckenringfraktur, die in einer anderen Klinik operativ versorgt wurden. Von dort aus kam die Patientin in ein Pflegeheim, in dem sie später verstarb.
Anmerkung: Ist eine verletzte Bewohnerin trotz hohen Alters zeitlich, örtlich und situativ in der Regel orientiert, auf ihre auf Selbständigkeit bedacht und hat sie die Möglichkeit, bei Hilfebedarf beispielsweise die Klingel zu betätigen, ist eine vollständige Absicherung gegen Unfallgefahren nicht erforderlich. Selbst bei Einschränkungen im geistig-seelischen Bereich muss nach der Rechtsprechung abgewogen werden, ob dem Wunsch des Heimbewohners, die in Rede stehenden Verrichtungen selbständig auszuführen, nicht weitgehend Rechnung zu tragen ist (Bundesgerichtshof, Urteil vom 28.04.2005 - III ZR 399/04).
Im entschiedenen Fall bestand aber aufgrund des Verhaltens der Patienten eine erhöhte Obhutspflicht.
Für die unfallbedingte Heilbehandlung und ein Krankenhaustagegeld wandte die Krankenkasse der Klägerin circa 93.300 Euro auf. Der Ersatzanspruch der Klägerin ist auf die Krankenkasse übergegangen. Diese kann nach § 116 SGB X Erstattung vom Krankenhaus und den verantwortlichen Krankenschwestern verlangen.
Wird das Krankenhaus in Anspruch genommen, kann es im Wege des Rückgriffs von den verantwortlichen Krankenschwestern volle oder teilweise Erstattung verlangen. Eine Haftung der Krankenschwestern kommt aber nur ausnahmsweise in Betracht, wenn ihnen ein grobfahrlässiges oder vorsätzliches Fehlverhalten vorzuwerfen ist (so § 5 Abs. 5 AVR-Caritas).
Grobfahrlässig ist ein Verhalten dann, wenn es aus objektiver Sicht nach dem für Mitarbeiter in der Pflege allgemein anwendbaren Ausbildungs- und Wissensstand unverständlich und unverantwortlich erscheint, weil ein solcher Fehler keinesfalls unterlaufen darf (z. B. Urteil des BGH vom 10.05.1983 - VI ZR 270/81).
Allerdings haben die Arbeitsgerichte "grobe Fahrlässigkeit" angenommen und zu hohen Schadensersatzzahlungen verurteilt, wenn ein durchaus pflichtbewusster Arbeitnehmer sich in einer für ihn ungewöhnlichen Gefahrensituation irrt und sich deshalb falsch verhält.
Beispiel: Eine geringfügig beschäftigte Reinigungskraft, die sich allein in einer Praxis befindet, drückt den in englischer Sprache beschrifteten falschen Schalter an einem medizinischen Gerät, der Notalarm blinkt, und verursacht dadurch einen Schaden in Höhe von mehr als 60.000 Euro.1 Sie wurde zum Schadensersatz in Höhe von zwölf Monatsentgelten verurteilt.
Eine Absicherung gegen derartige Schadensrisiken ist durch eine Berufshaftpflichtversicherung möglich; denn Privathaftpflichtversicherungen decken beruflich verursachte Schäden grundsätzlich nicht ab.
Eine Verletzung der Obhuts- und Aufsichtspflicht kann nicht nur Schadensersatzpflichten auslösen, sondern auch zu einem Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung führen. In diesem Falle hat der Arbeitgeber aufgrund seiner Fürsorgepflicht alle Umstände einzubringen, die zu einer Entlastung der verantwortlichen Mitarbeiter beitragen können und - je nach den Umständen - auch die Kosten eines Strafverteidigers zu übernehmen (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.03.1995 - 8 AZR 260/94, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 1995, 836).
1 Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.10.2010 - 8 AZR 418/09, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht
2011, 345.