Verkürzte Diskussion
Reduzierungen der Angebote und Schließungsszenarien aufgrund von Personalmangel werden diskutiert. Die Pflegedienste, aber auch die Kinder- und Jugendhilfe sind primär betroffen.
Der Blick auf den Altersdurchschnitt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird mancherorts zu einem Gefahrenpotenzial für einzelne Felder der sozialen Arbeit. Der positive Effekt dabei: Personalgewinnungskonzepte, Imagewerbung für soziale Berufe und Reflexionen zu familienfreundlichen Arbeitsbedingungen sind zu zentralen strategischen Aufgaben der Caritas geworden und zeigen erste Effekte.
Die gesellschaftliche Diskussion um das Schlagwort "Fachkräftemangel" in den sozialen Berufen steht jedoch in der Gefahr einer folgenschweren Verkürzung. Worin herrscht denn der wirkliche Mangel in unserer Gesellschaft?, so muss gefragt werden. Geht es allein um die Personalbewirtschaftung professioneller Dienste, die die öffentlichen Systeme der Daseinsvorsorge erforderlich machen? Bei Weitem nicht!
Gegen undifferenzierte Diskussionen muss die Caritas in ihrer anwaltschaftlichen Funktion auf die wirklichen Bedarfe in der Daseinsvorsorge und bei der Absicherung problematischer Lebenslagen der Menschen aufmerksam machen. Das Verständnis von "Fach- und Kräftemangel" muss grundsätzlich neu durchbuchstabiert werden. Unsere Gesellschaft braucht zuerst einen Diskurs um gelebte und praktizierbare Solidarität der Menschen untereinander in den Sozialräumen und Nachbarschaften. Hier gilt es zuerst, die Hilfsnetze und Selbstversorgungsstrukturen und das bürgerschaftliche Engagement zu stärken.
Das eingeübte Muster einer reflexhaften Überleitung von sozialen Problem- und Lebenslagen in professionelle Fachdienste muss auch von der Caritas durchbrochen werden. Der Fachkräftemangel - auch dort, wo er nicht nur herbeigeredet ist - steht im Zusammenhang mit einem Mangel an Menschen, die in den Alltagssituationen füreinander und freiwillig Verantwortung übernehmen. Die Freiwilligenforschung zeigt, Menschen sind weiterhin bereit, sich für andere Menschen zu engagieren. Daher ist es eine weitere Frage, ob nicht zugleich ein Mangel darin besteht, die vorhandenen Menschen guten Willens zu entdecken, anzusprechen, zu gewinnen und mit den Diensten und Initiativen zu vernetzen. Dies ist eine generelle Aufgabe der Wohlfahrt, für die Caritas aber ist es eine inhaltliche Kernaufgabe aus dem christlichen Grundauftrag heraus.
Professionelle Fachdienste sind immer dort unverzichtbar, wo die Strukturen der Selbstorganisation überfordert sind oder um der Betroffenen willen Professionalität und Fachlichkeit erforderlich sind. Hier ist der Bedarf an Fachkräften zweifellos ein echtes Zukunftsthema. Die Diskussion muss aber eingebettet sein in den Diskurs um eine solidarische Zivilgesellschaft, die immer mehr Akteure braucht und hat, als es Profis in der Sozialwirtschaft und freien Wohlfahrt geben kann. Neue Formen sowohl der niederschwelligen Assistenz und Unterstützung als auch der Nachbarschafts- und Selbsthilfe durch Ehrenamtliche werden derzeit konzipiert und etabliert. Sie tragen dazu bei, dass Menschen länger in der gewohnten Umgebung selbstbestimmt leben können. Hier müssen Fachkräfte und andere freiwillige Akteure zukünftig lernen, respektvoll Hand in Hand zu arbeiten. Die Gewinnung von Fachkräften wird im entscheidenden Maße davon abhängen, wie eine positive Kultur der Anerkennung des beruflichen und freiwilligen sozialen Engagements - innerhalb wie außerhalb der Fachdienste - gelebt werden kann.