Im Alter zu Hause
Noch vor einigen Jahren hätten alle Bezugspersonen überlegt, wie man Frau K. dafür gewinnen könnte, möglichst bald in das komfortable Seniorenzentrum im benachbarten Stadtteil umzuziehen. Doch mittlerweile hat sich die Perspektive gedreht: Pflegedienst, Schwiegertochter, ja sogar der Hausarzt und die Sozialarbeiterin der Wohnungsgesellschaft, bei der Anna K. Mieterin ist, machen sich gemeinsam Gedanken über Unterstützungs-möglichkeiten, damit Anna K. nicht mehr umziehen muss.
Der Supermarkt liefert schon lange die bestellten Lebensmittel. Die Wohnungsgesellschaft hat einen Haushaltsdienst gegründet, der Anna K. wie auch andere Mieter bei der Reinigung der Wohnung und anderen kleinen haushaltsnahen Dienstleistungen unterstützt. Die Schwiegertochter konnte eine Nachbarin gewinnen, regelmäßig zweimal am Tag bei Frau K. vorbeizuschauen. Auf diese Weise kann Anna K. das Leben in der gewohnten Wohnung noch bewältigen. Im Stadtviertel allerdings wird man sie kaum noch antreffen - zu beschwerlich ist es für sie, mit ihrer Gehbehinderung das Haus zu verlassen und sich auf den wenig behindertengerechten Wegen in ihrer Siedlung zu bewegen - ganz abgesehen davon, dass es kaum Orte gibt, wohin es sie hinziehen könnte, seit die Begegnungsstätte wegen Wegfall der Zuschüsse schließen musste.
Neuer "Wohlfahrtsmix"
Die demografischen Prognosen verheißen, dass sich in Zukunft sehr viele Menschen in ähnlicher Lage finden wie Anna K. und dass ein einfacher Umzug in eine stationäre Einrichtung weder den Wünschen dieser Menschen entspricht noch organisatorisch, finanziell und personell zu bewältigen ist. Andererseits werden immer weniger Angehörige zur Verfügung stehen, die ihre unterstützungs- oder pflegebedürftigen Partner, Eltern, Geschwister in der eigenen Häuslichkeit versorgen können. Pflege und Versorgung müssen auf andere Füße gestellt werden. In einem neuen "Wohlfahrtsmix" müssen die Betroffenen mit den ihnen verbliebenen Kompetenzen, die Angehörigen, Nachbarn, die Privatwirtschaft und die sozialen Dienste abgestimmt das Ihre dazu beitragen, damit das Leben in der angestammten Häuslichkeit möglich bleibt. Die Kommunen haben dabei die Aufgabe, die Entwicklung solcher konzertierten Initiativen anzustoßen, zu fördern, ggf. zu koordinieren. Das Seniorenministerium in NRW hat sich in den vergangenen Jahren genau diese Vorstellungen zu eigen gemacht und für Städte und Gemeinden einen "Masterplan Quartier" ausgerufen. Damit wird den Kommunen ein Werkzeugkasten zur Verfügung gestellt, mit dessen Hilfe Bedarfe und Ressourcen vor Ort analysiert, unterstützt und koordiniert werden können.
Das Programm setzt vor allem bei der Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements an. Neben den Betroffenen selbst sollen vor allem kompetente Frauen und Männer der älteren Generation gewonnen werden, sich an der lokalpolitischen Gestaltung guter Lebensverhältnisse für alte Menschen vor Ort zu beteiligen und natürlich selbst bei der Unterstützung ihrer hilfsbedürftigen Altersgenossen Hand anzulegen. Dies wird nur im "Quartier" gelingen, wo Menschen möglichst viele gemeinsame Berührungspunkte haben und sich kennen. Dort kann, so die Idee aus Wissenschaft und Politik, ein bestehender Zusammenhalt zwischen den Menschen vor Ort verstärkt oder Solidarität sogar neu gestiftet werden.
Die Landesregierung bemüht sich, mit Hilfe von Kampagnen, Konferenzen und Gesetzesinitiativen alle Beteiligten, also etwa die Wohnungswirtschaft, den Einzelhandel, Ärzte und Krankenhäuser, Verkehrsunternehmen, die Wohlfahrtsverbände und nicht zuletzt die Vertreter der Senioren, zum Mitmachen zu gewinnen.
Die Caritas in NRW begrüßt diese Initiative. Seit vielen Jahren setzt sie sich für das Konzept der "Sozialraumorientierung" in vielen Feldern der sozialen Arbeit ein - gegenwärtig verstärkt durch eine Initiative des Deutschen Caritasverbandes. Die "Quartiersentwicklung" passt gut in diesen Ansatz, soziale Herausforderungen gemeinsam mit den Betroffenen und nach Möglichkeit vor Ort zu lösen. Bereits 2010 haben die NRW-Caritasverbände dazu einen Fachtag durchgeführt und in einem Perspektivenpapier die Chancen einer solchen Quartiersentwicklung, aber auch die Voraussetzungen benannt. Die Caritas der Gemeinde bringt eine starke Tradition mit, sich vor Ort umeinander zu kümmern und Unterstützung zu organisieren. Aus diesem Bewusstsein heraus sind die Caritas-Sozialstationen einmal entstanden. Darüber hinaus könnte die Caritas in den sozialen Räumen Plattformen bereitstellen, wo sich Bürgerinnen und Bürger aller Altersstufen um ihre Lebensbedingungen kümmern und in die lokale Politik einmischen. Denn ob "Sozialraumorientierung" oder "Quartiersentwicklung" - alle diese Ansätze leben davon, dass (alternde) Menschen stärker in die Verantwortung für ihre Lebensverhältnisse eingebunden werden.
Entschleunigung und Achtsamkeit
"Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt" heißt die Initiative der Deutschen Caritas für die nächsten drei Jahre. Gerade im Hinblick auf das Alter ist Solidaritätsstiftung dringend geboten. Wer das Quartier so gestalten möchte, dass dort alte Menschen gut leben, auch wenn sie nicht mehr "so gut können", muss offen für Veränderungen in seinem Quartier sein: Er wird mit Langsamkeit als Kontrast zu unserer überall dominierenden Beschleunigung konfrontiert. Er benötigt Achtsamkeit für Mitmenschen, die vielleicht die Orientierung verloren haben und für einen geduldigen Hinweis dankbar sind. Er wird bereit sein, nach den Nachbarn zu schauen, denen immer einmal etwas passieren kann.
Quartiersentwicklung kann zu einem zukunftsweisenden Konzept in der Lebensgestaltung für das Alter werden. Dieser Ansatz verlangt zugleich, dass die verschiedensten Akteure im Gemeinwesen das Gemeinwohl ernst nehmen. Und es fordert Menschen mit sehr unterschiedlichem Alter, Einkommen, Gesundheitsstatus und Kompetenz heraus, einander wertzuschätzen und sich füreinander zu interessieren. Wenn die Caritas gemeinsam mit anderen auf diesem Weg vorankommt, bleibt die Situation der Anna K. nicht Idealvorstellung, sondern wird zum Normalfall des Lebens im Alter im Quartier.